Mittwoch, 6. Juni 2012

Philip Roth: Der menschliche Makel


„Seit frühester Kindheit hatte er sich nichts anderes gewünscht, als frei zu sein: nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst. […] Das Ziel war, sein Schicksal nicht von den dummen, hasserfüllten Absichten einer feindseligen Welt bestimmen zu lassen, sondern, soweit menschenmöglich, durch seinen eigenen Willen.“ Philip Roth Der menschliche Makel
Soweit zum Traum, zum Wunsch, zur Vorstellung einer makellosen Welt aber die Natur des Menschen lässt Freiheit dieser Art nicht zu. Niemand ist ohne Makel, denn was dieser ist, bestimmt die Masse, die Umgebung, bestimmen die Anderen und legt man die alten Zeichen ab, bekommt man Neue angesteckt.

Nathan Zuckermann, ein alternder jüdischer Schriftsteller, wohnhaft in einem kleinen pittoresken Ort an der Ostküste der USA, begegnet dort dem jüdischen Intellektuellen Coleman Silk, nachdem dieser von seinem Arbeitsplatz als Professor für antike Geschichte von der örtlichen Universität Athena geflohen ist. Coleman Silk ist erfüllt vom Hass auf diese Uni, die er als Dekan maßgeblich mit gestaltet hat, von der er aber vertrieben wurde, weil man ihm Rassismus vorwarf, Rassismus nach einem einzigem zweideutigen Wort über ihm unbekannte Studenten, die sich als afroamerikanisch herausstellten. Besonders der Tod seiner Frau in den Wirren dieser Zeit, für den aus seiner Sicht auch die Universität Verantwortung trägt, hat ihn völlig aus der Fassung gebracht.      
„Aber die Gefahr beim Hassen ist: Wenn man erst mal damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören. Ich kenne nichts, das schwerer im Zaum zu halten ist als das Hassen. Es ist leichter, mit dem Trinken aufzuhören als mit dem Hassen. Und das will etwas heißen.“
Silk versagt beim hasserfülltem aufschreiben der Ereignisse und bittet Nathan einen Roman aus der Sache zu machen, aber der lehnt das Angebot ab. Nathan will sich nicht einmischen, aber er beobachtet Silk weiter und tatsächlich findet der 71 jährige Silk etwas Neues, das seine Emotionen kanalisiert, er stürzt sich in eine Affäre mit der 34 jährigen Putzfrau Faunia Farley.
„Ja, dachte ich, die trotzige Reaktion auf die Demütigung besteht nicht mehr darin, dieses Buch zu schreiben, sondern mit Faunia zu vögeln. Aber ihn treibt noch mehr als das. Er hat den Wunsch, das Tier loszulassen, diese Kraft freizusetzen – für eine halbe Stunde, für zwei Stunden, für wie lange auch immer – und erlöst diesem natürlichen Drang nachzugeben."
Wieder bricht er damit Konventionen, und wieder verfolgt ihn der politisch korrekte Mob personifiziert durch Delphine Roux, seiner Nachfolgerin an der Uni, die ihm in einer bodenlosen Hassliebe verbunden ist. Doch damit nicht genug, es droht ihm nun auch Gefahr für sein Leben, Faunias Ex-Mann, ein geistig schwer angeschlagener Vietnamveteran, der mit seiner Psyche kämpft und unbändigen Hass auf den Staat, auf Faunia und natürlich auf deren Liebhaber empfindet, beobachtet die beiden. Dann sterben Faunia und Silk bei einem mysteriösen Autounfall und Nathan beschließt doch noch das Buch zu schreiben. Am Grab von Coleman Silk begegnet ihm dessen Schwester, ihre Haut ist hellbraun, leicht gelblich, relativ gering pigmentiert aber bei ihr erkennt er es sofort, sie ist trotz der hellen Haut Afroamerikanerin, wie auch ihre Brüder, auch wenn einer von ihnen beschloss es nicht mehr zu sein.

Der Menschliche Makel ist ein Roman über Identität, über die Zeichen an uns, die uns einordnen und unser Leben bestimmen und über die Frage, ob wir die Freiheit haben sie zu ändern. Silk hat nie behauptet ein Weißer zu sein, er hat nur angefangen sich zu benehmen als wäre er keine Schwarzer, als hätte er keinen Makel an sich und schon war er weiß, „lilienweiß“ wie sein Bruder sagte, als er ihn für immer verbannte und am Ende macht ihn die Uni tatsächlich lilienweiß. Weißer als er je sein wollte und als er tatsächlich war.

Philip Roth geißelt die träge pseudo politisch korrekte Kultur der amerikanischen Vorzeigeuniversitäten, ja er macht sich lustig über sie und das ist umso erstaunlicher, da er sich ansonsten über niemanden lustig macht. So wie die Figuren anfangs wirken wie die Chargen, aufgestellt um Bilder zu ergeben, die in die Geschichte passen, so werden die Chargen Stück für Stück zu komplexen Figuren. Die von seiner Umgebung als hilfloses Opfer seiner Sexualität stilisierte, scheinbare Analphabetin, Faunia, hinterlässt ein ausführliches Tagebuch und zeigt sich erstaunlich selbstbewusst. Der wahnsinnige Ex-Mann, gequält von posttraumatischen Störungen, entpuppt sich als mitleiderweckendes Wesen, als Opfer seines Staates. Die rachsüchtige Delphine Roux erscheint im Licht, als einsames, eingeschüchtertes Opfer derselben ortsansässigen Opportunisten, denen sie eben noch voranlief um Silk zu zerstören. Und nicht zuletzt Silk selbst, sein Freiheitsdrang ist übermächtig, sein Selbstbewusstsein unendlich, er zerstörte alle Brücken, er hinterließ verbrannte Erde obwohl er nie Opfer war, nie Rassismus spürte aber er bestand auf Freiheit, Wahlfreiheit. Ein großer Mann, ein antiker König, der gefällt wird oder selbst fällt, sich aber niemals, auch nicht im Sturm biegt.    

Roth entwickelt eine antike Tragödie, gespielt vor dem Hintergrund des Bill Clinton und Monica Lewinsky Skandals und dargebracht in einer ausufernden mäandernden Sprache, wütend und ausdrucksvoll beschreibt er mit ihr die Kulissen des postmodernen Amerikas sowie das Innere seiner Einwohner.
„In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem die Witze, die Spekulationen, die Theorien, die Übertreibungen kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung , seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem die Kleinlichkeit der Menschen schlichtweg überwältigend war, in dem eine Art Dämon auf die Nation losgelassen wurde und man sich in beiden Lagern fragte: Warum sind wir eigentlich so verrückt?, der Sommer, in dem Männer und Frauen beim Aufwachen feststellten, dass sie im Schlaf, in einen Zustand weit jenseits von Neid und Abscheu, von Bill Clintons Unverfrorenheit geträumt hatten. Ich selbst träumte in diesem Sommer von einem gewaltigen Spruchband, das dadaistisch wie eine Christo-Verpackung von einem Ende des Weißen Hauses zum anderen gespannt war und auf dem stand: HIER LEBT EIN MENSCHLICHES WESEN.“
Ein Großer Roman über den amerikanischen Traum und seinen Preis, in dem am Ende alles ungesühnt bleibt und das zurecht, denn dort ist kein wirklich Schuldiger auszumachen. So bleibt es zurück das Amerikanische Idyll.
Für mich bleibt auf jeden Fall auch etwas zurück: Dieses Buch gehört in jeden Bücherschrank.

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