Samstag, 16. Juni 2012

H. G. Wells: Die Zeitmaschine

Ein findiger Tüftler hat ein paar bekannte Leute des öffentlichen Lebens zu sich nach Hause eingeladen und demonstriert ihnen ein kleineres Modell seiner Erfindung. Mit dieser Miniatur-Maschine behauptet er, einen Würfel durch die Zeit befördern zu können. Tatsächlich ist einen Knopfdruck später der Würfel fort. Nach dieser Demonstration sind die Geladenen sich ziemlich sicher, dass sie einem billigen Zaubertrick aufgesessen sind.
Doch nur kurze Zeit später lädt der Erfinder ein größeres Publikum zum Abendessen ein. Als die Gäste schon am Tisch sitzen, knallt es aus dem Arbeitszimmer des Erfinders und dieser kommt in einem erbärmlich ungesunden Zustand in das Wohnzimmer gehinkt. Stumm trinkt er etwas Wein und beantwortet keine Fragen - bis auf eine: Sind Sie mit der Zeitmaschine gereist?
Seine Antwort: Ja.


Im Raucherzimmer erzählt er seinen Gästen die Geschichte seiner Reise. Er war in der Zukunft, im Jahr 800.000 und noch darüber hinaus. Die Reise fühlte sich merkwürdig an. Das Wechseln von Tag und Nacht wurde immer schneller, bis das hochfrequente Flackern in einen halbhellen Mischton überging. Mit flauem Gefühl im Magen landete er schließlich in einem Waldstückchen direkt neben einer schneeweißen Sphinx-Statue. Sogleich wurde seine Landung von den Menschen der Zukunft bemerkt und sie nahmen ihn neugierig in Augenschein. Sie sahen bemerkenswert schön aus, waren viel kleiner als ein erwachsener Mensch und sie lachten gern. Sie fühtren den Fremden in ihr Gemeinschaftshaus und teilten mit ihm ein üppiges Mahl bestehend aus Bergen von Früchten.
Für den ersten Moment glaubte dieser, er sei im Paradies gelandet. Das Obst schmeckte fantastisch, die Luft war warm und das Leben der Menschen sah aus wie purer Urlaub. Mit wenig Mühe erlernte er die Sprache seiner Gastgeber. Schwierig war das nicht, die Sprache war erstaunlich simpel, verfügte über keinerlei abstrakte Begriffe, sondern benutzte nur Gegenstände und Verben. Nicht nur die Sprache gestaltete sich als sehr einfach - die Menschen selbst (die sich übrigens selbst Eloi nannten) waren höchstselbst von einfachem Gemüt. Sie glaubten, dass der Zeitreisende mit dem Donner vom Himmel gekommen war und verloren unheimlich schnell das Interesse an einer Sache, die sie gerade taten. Es schien, dass der gewonnene Fortschritt das Leben der Eloi so bequem gemacht hat, dass diese ihre Intelligenz nicht mehr länger benötigten. Sie schienen sozusagen ein dekadentes Endkapitel der menschlichen Entwicklung zu sein. So die Theorie des Zeitreisenden.
Doch dann verschwand über Nacht seine Zeitmaschine. Außerdem fand er scheinbar nutzlose Schornsteine und Brunnen, die bodenlos in die Tiefe führten und aus denen ein beständiges Wummern zu hören war. 


Im Grunde hat man es hier mit einem klassischen Zeitreise-Szenario zu tun. Der Sprung in die Zukunft wurde angenehm groß gewählt, sodass das sehr drastische Szenario genügend Zeit eingeräumt bekommt, um sich auch zu entwickeln. Oft hat man es ja, dass die Science Fiction Autoren ganz schüchtern und bescheiden nur bis ins Jahr 2000+X heraus phantasieren und für dieses Jahr schon die übergeschnapptesten Erfindungen einkalkulieren. Der jetzige Mensch kann sich beim Lesen dann gedanklich grinsend auf die Schenkel klopfen und zu sich selbst murmeln: "Jaa... das hätte ich auch gerne."
Dies wurde hier direkt umgangen. Der Zustand der Menschheit wurde erstaunlich glaubhaft getroffen. Zum Einen wirkt das Äußere der kleinen Eloi durchaus wie das, zu dem wir uns einmal hin entwickeln werden. Haarloser werden wir ja jetzt schon. Die Folgen von Technik und der Fortschritt wurde - ohne näher auf die konkreten Errungenschaften der Zukunft einzugehen - konsequent zu Ende gedacht. Tatsächlich, irgendwann sind vielleicht alle Krankheiten besiegt, alle Umweltkatastrophen unter Kontrolle, alle Energieprobleme gelöst und dann bleibt den Menschen der Zukunft nichts anderes übrig, als sich auf die faule Haut zu legen und ihr erarbeitetes Leben in Wohlstand zu genießen. Ist das wirklich schon alles?
Nein, ist es natürlich nicht - aber mehr verrate ich nicht. Auf jeden Fall ist der Leser immer nur so schlau wie der Zeitreisende. Dieser beobachtet seine Umwelt, unterhält sich mit den Eloi (so gut es mit der krüppelhaften Sprache eben geht) und fügt seine Erkenntnisse zu Theorien zusammen. Eins wird auf jeden Fall sofort klar: Die Theorien müssen noch das eine oder andere Mal nachgefeilt werden. Denn wenn die Eloi den ganzen Tag nur dem Müßiggang nachgehen, wer wäscht dann ihre Wäsche, pflückt Früchte und näht ihre Kleidung?
Immer wenn der Zeitreisende auf etwas Neues stößt, entpuppt sich die neue Theorie als eine fortgedachte, eskalierte Version der vorigen Theorie. Da geht es zum Schluss schon echt unheimlich zu.
 
Was mir besonders gut gefällt, ist der Rahmen, in den die Geschichte des Zeitreisenden eingebettet ist. Die Herrengesellschaft, die dem Erfinder lauscht, entspringt dem 19. Jahrhundert. Gegenüber den Behauptungen des Erfinders zeigen sich die meisten Zuhörer sehr skeptisch, sie vermuten hinter dem angeblichen Erfinder einen Scharlatan mit zu viel Phantasie. Den einzigen Beweis, den der Erfinder von seiner Reise mitgebracht hat, ist eine vertrocknete Blume, die ein Eloi-Mädchen ihm in die Jackentasche gesteckt haben soll. Tatsächlich kann der Biologe der Herrenrunde die Blüte nicht identifizieren - aber was heißt das schon? Hundertprozentig sicher kann man sich auch als Leser nicht sein, dass die Zeitreise wirklich stattgefunden hat. Alles, was man erfährt, ist die Geschichte des Erfinders und sein sonderbar verwahrlostes Auftreten zum Abendessen. Es wäre für mich das erste Mal, dass in einem Science Fiction Abenteuer eine faszinierende Zeitreise beschrieben wird, die sich der Erzählende nur ausgedacht hat, um die Zuhörer zum Narren zu halten.
Lediglich kurz vor Schluss scheint der einzige überzeugte Zuhörer mit eigenen Augen zu sehen, wie die Zeitmaschine ihre Arbeit tut. Wie es aber um den Wahrheitsgehalt des beschriebenen Abenteuers steht, kann man nie mit Sicherheit klären.
 
Das finde ich sympathisch, denn Zeitreisen sind - aufgrund ihrer Unvorstellbarkeit - sicher ein beliebtes Ziel für Trickkünstler und Geschichtenerzähler. Wie die Zukunft wirklich sein wird, kann schließlich sonst niemand nachprüfen. Vielleicht wären echte Zeitreisen ungleich langweiliger und unverständlicher, als es sich ein fantasiereicher Märchenerzähler ausdenken würde? Stellen Sie sich vor, sie reisen als erster Mensch zehntausend Jahre in die Zukunft und die Welt sieht immer noch fast genauso aus wie jetzt: Die Menschen kämpfen immer noch um Territorien und retten Wale vor dem Aussterben. Das ist doch öde, was soll man seinem Publikum dann erzählen?
 
Nichtsdestotrotz kann man der Geschichte - so faszinierend sie auch sein mag - nicht attestieren, dass sie bis ins letzte Glied der Logik treu bleibt. Als Mensch aus fast 4000 Jahren zurück liegender Vergangenheit ist der Zeitreisende den Zukunftswesen doch erstaunlich überlegen. Die Eloi sollen eigentlich ein Volk darstellen, was sich am Ende der Entwicklung und des Fortschritts befindet. Aber von diesem Fortschritt ist fast nichts zu sehen. Es gibt zwar keine Krankheiten mehr und keine parasitären Lebewesen (eine Parallele aus Wells´ anderer Utopie “Menschen, Göttern gleich”), sondern nur noch Nützlinge, selbst die Verwesung kann beeinflusst werden. Aber was alle sonstigen Lebensbereiche anbelangt, sehen die Wesen der Zukunft neben dem Zeitreisenden völlig machtlos aus. Nicht nur in körperlicher Hinsicht oder intellektuell haben sie sich zurück entwickelt, ihnen scheint das meiste der technologischen Errungenschaften der Vergangenheit verloren gegangen zu sein. Dies wiederum macht sie schutzlos gegenüber Problemen, die in der Vergangenheit durch Erfindungen bereits gelöst worden waren. Wenn das so ist, kann sich das Volk aber wohl kaum als fertig entwickelt betrachten und zurück lehnen. Oder?
Ich hoffe, es ist einigermaßen klar geworden, worauf ich hinaus will. Diese eine Sache ist mir in dem gesamten Roman als einziges unangenehm aufgestoßen, ansonsten fand ich Wells´ Geschichte ein weiteres Mal faszinierend und anregend.

Stilistisch geht es analytisch und unverblümt wie meistens im SciFi zu. Da der Leser dem Erlebnisbericht eines Erfinder also eines wissenschaftlichen Tüftlers lauscht, klingen die Beschreibungen auch danach, als würde ein Zoologe durch den Dschungel laufen und die Arten katalogisieren. Das klingt unheimlich trocken und langweilig, ist es aber nicht. Die Handlung schreitet angenehm zügig voran, ich fühlte mich als Leser schnell hinein gesogen in die Handlung. Spannung kommt dabei auch schnell auf und wie gesagt - auch etwas unheimlich wurde es (fand ich zumindest). 

Nur was das Zwischenmenschliche angeht, kann Wells überhaupt nicht überzeugen. Der Zeitreisende lernt während der Geschichte ein besonders anhängliches Eloi-Mädchen kennen, was ihn anhimmelt und für welches er tatsächlich auch Gefühle entwickelt. Dieser Bestandteil der Geschichte kann getrost überlesen werden und es hätte nicht geschadet, wenn er gar nicht erst niedergeschrieben worden wäre.
Was hier in den Autoren gefahren ist, weiß ich nicht. In ihrer winzigen Körpergröße und haarlosen, großäugigen Physiognomie gleichen die Eloi menschlichen Kindern und auch intellektuell scheinen sie nicht darüber hinaus zu gelangen. Was ein kluger, erwachsener Mann an solch einem Geschöpf finden soll, will mir nicht ganz einleuchten. Aber wie gesagt, dies lässt sich auch gut überlesen, denn das zaghafte Tingeltangel nimmt glücklicherweise wenig Raum ein und lässt sich gedanklich auch durch einen herauf beschworenen Beschützerinstinkt ersetzen.

An alle ScienceFiction-Fans mit Hang zum nüchternen Wissenschaftsstil: Leseempfehlung!

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