Samstag, 12. Mai 2012

Max Goldt: Ä (Kolumnen)

Diese Rezension möchte ich beginnen mit einem Zitat. Allerdings einem, das nicht diesem Buch entstammt, sondern unserem fleißigen Rezensenten Steffen. Das Zitat von ihm bezieht sich aber auf Max Goldt (wobei genauer gesagt auf ein anderes seiner Bücher, nicht auf dieses, aber in dem Fall lässt sich das übertragen und tut nebenbei bemerkt auch gar nichts zur Sache). Das Zitat lautet:
“Du möchtest die besten Textstellen von Max Goldt zitieren? Dann hast Du ein 180 Seiten langes Zitat, viel Spaß beim Abtippen.”

Es ist beinah unmöglich, eine Aussage darüber zu treffen, worum es bei Max Goldt´s Kolumnen geht. Nicht einmal der Inhalt einer einzigen Kolumne lässt sich irgendwie sinnvoll in einem Satz unterbringen. Tatsächlich lesen sich die Texte wie ein Dialog zwischen zwei alten Freunden, nur dass der zweite alte Freund fehlt und einfach durch einen schweigenden Leser ersetzt wurde: Man wechselt munter durch die Themen, kommt vom Hundertsten ins Tausendste und wenn man am Ende angelangt ist, hat man keine Ahnung mehr, wie man eigentlich auf dieses Gesprächsthema gekommen ist.
Beispiel? Beispiel: In “Lockende Wucherungen, schäbige Irrtümer” zitiert er einige übersetzte Zungenbrecher aus Polen und England (auf die Zungenbrecher kam er, nachdem er uns mitteilte, dass einer Statistik zufolge 80% aller Zungenverletzungen durch das Ablecken von Messern entstehen). Als weiteres seiner Hobbies erfahren wir von einer Leidenschaft für das Sammeln von Fotos, auf denen Kabelsalat aufgrund von Missbrauch der beliebten Steckdosenverteiler zu sehen ist. Neben des künstlerischen Wertes solcher Kabelknäule kann sich Goldt auch für die noblen Sorgen überforderter Damen begeistern, die beispielsweise nicht wissen, was sie auf einer langen Busfahrt anziehen sollen ohne unhübsch auszusehen. Hierauf folgt der Vollständigkeit halber eine Aufzählung diverser Problemchen, mit denen sich vornehmlich die Männerwelt herumplagt. Unter anderem die Frage, wo man am besten seine Plastiktüten verstaut. Nebenbei bemerkt gibt es heutzutage nicht mehr so schicke Tüten wie noch vor zwanzig Jahren, als es schick war, mit einem bestimmten Tütendessign persönliche Gegenstände zu transportieren. Wo wir sowieso gerade bei unterschiedlichen Generationen sind: Die heutigen jungen Menschen scheinen einvernehmlich untereinander abgemacht zu haben, die Länder Spanien, Portugal, Griechenland oder Türkei mindestens einmal besucht zu haben. Derartiges kann Max Goldt nicht aufweisen. Seine Urlaubsreisen führten ihn bisher immer in andere Gefilde - aber vielleicht ändert sich das ja noch. Es gibt ja so viele, was man noch nicht gemacht hat. Zum Beispiel auf dem Bauch einer Hochschwangeren mit einem Spielzeugauto herumfahren und dabei “Wrum, wrum, wrum” brummeln. Zum Thema Lifestyle gab es übrigens in einer Zeitung mal ein Gewinnspiel für Abokunden. Gewinnen konnte man einen Tischstaubsauger. Diese seltsame Form der Kundenakquise macht ihn ratlos und verspricht ähnlichen Erfolg wie die dünnen knisternden Plastiktüten, die sich wie in den USA so auch in Deutschland nie richtig durchsetzen konnten. Stattdessen tragen die Leute hier ihre Lebensmittel in braunen Papiertüten ohne Henkel auf dem Arm und holen sich einen Bandscheibenschaden. Warum eigentlich? Und wodurch werden die anderen 20% aller Zungenverletzungen hervorgerufen? Durch das Lutschen von Bonbons, Küssen oder dem Benetzen der Briefumschlaggummierung...?

So oder so ähnlich entspinnt sich eine Kette mehr oder weniger zusammenhangsloser Beobachtungen, Bemerkungen und Anekdoten. Oftmals witzig formuliert (nicht zuletzt wegen galanter Sprachgewandtheit oder origineller Wortspielereien),
Das größte Problem beim Freiland-Fotografieren sind die glotzenden Passanten. Sobald man etwas festhält, was keine Ähnlichkeit mit dem Kolosseum oder den Niagara-Fällen hat, bleiben sie stehen und denken, was fotografiert der denn da, fragen schlimmstenfalls sogar. (“Besser als Halme: Blutmagen, grob”)
häufig auch sehr klug und kritisch.
Auch an alten Ufern liegt noch manche ungeknackte Muschel. Aber in der Behauptung, es sei schlechterdings unmöglich, noch wesentlich Neues zu schaffen, kämpfen Selbstzufriedenheit und Feigheit um die Vorherrschaft. Erfahrene Beobachter werden auch Doofheit und Weichlichkeit mitkämpfen sehen. Solange es Menschen gibt, wird sich der Drang zur Veränderung behaupten. Keine Kunst ist je zu Ende und getan. (“Besser als Halme: Blutmagen, grob”)
Zwischen allem Zeitgeist und aller Erzählkunst darf man nicht erschrecken, wenn es in manchen Kolumnen schräg oder sogar grotesk wird. Auch das gehört zu Max Goldt. In diesem Buch findet man aber verhältnismäßig wenige dieser “Ach du Schreck, was war denn das”-Passagen. 
Das Ä in Mariä macht echt Laune. Es ist ein veritables Fun-Ä. Viele Völker beneiden uns Deutsche und die Schweden und Norweger wegen unseres verbrieften Rechtes, Pünktchen auf Buchstaben zu streuen. [...] Die muttergöttlichen Ä-Feiertage - es gibt auch noch Mariä Himmelfahrt, Mariä Geburt, Mariä Lichtmeß (die scheint dauernd irgendwas angestellt zu haben) - sollte das ganze Volk begehen. Die einen preisen Maria, die anderen den Umlaut. Schöne Prozessionen sind denkbar: Vornweg gehen die Frommen und rufen “Mari-, Mari-, Mari-”, die weniger Frommen schreiten hintan und rufen “Ä, Ä, Ä”. (“Ä”)

Alle Kolumnen stammen von 1995-96. Das merkt man ihnen inhaltlich natürlich an. Es ist manchmal von Marken die Rede, von denen schon lange keiner mehr was gehört haben soll und dann fallen als Beispiele die Namen: Lift Apfelschorle, Sinalco oder Bluna. Retro ist halt, was es vor fünfzehn Jahren schonmal gab. Das Internet steckt noch am Anfang, ist nur für wenige Mutige verfügbar, furchtbar langsam, wird von allen misstrauisch beäugt und lediglich dazu benutzt, unter falschem Namen sexuell anrüchige Chats zu führen. Aber IKEA, Capri Sonne und postfeministische Anti-Männer-Aggression gabs damals schon.
Untypisch für die spätere Schaffenszeit Max Goldts ist der rege Einsatz von saloppen Formulierungen. Damalige Modebegriffe wie “shmoov” oder “groovy” werden (auf ironische Weise) gern aufgegriffen und durch den Kakao gezogen. Ansonsten ist das sprachliche Niveau und die Güte von Goldt´s Beobachtungsgabe für das alltägliche Skurrile durchgängig auf hohem Niveau.
Die Kolumnen sind in erster Linie als Unterhaltung gedacht (wenn auch Unterhaltung, die den Menschen gern einem kritischen Blick unterzieht) und aufgrund der knappen Textstücke eher als Literatur für zwischendurch oder parallel zu einem anderen Roman geeignet. Wer also Lust hat, sich von Goldt´s faszinierender Sprachkraft plätten zu lassen, der greife selbstbewusst und ohne Zögern zu: “Ä”.

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