Samstag, 5. Mai 2012

John Irving: Die vierte Hand

Der gutmütige und rückgratlose Schönling Patrick Wallingford führt ein glückloses Leben ohne Moral, ohne Verantwortung und ohne Ziel. Er ist Nachrichtenreporter für einen Krawallsender. Durch sein attraktives Aussehen rennen ihm die Frauen reihenweise hinterher. Da er im Grunde ein herzensguter Mensch ist, kann er den Damen es nicht abschlagen, mit ihm ins Bett zu gehen. Auf diese Weise tingelt er im Auftrag der Hysterie durch die Welt, hält teilnahmslos fremden Menschen Mikrophone unter die Nase und lässt sich nebenbei von jedem Frauenzimmer klar machen.
Bei einer Auftragsarbeit im indischen Zoo geschieht plötzlich etwas völlig Überraschendes: Vor laufender Kamera beißt ein Löwe aus dem Gehege heraus Patricks linke Hand ab.
Die Bilder werden von dem Sender dankbar angenommen und unter größtmöglichem Trommelwirbel in die Welt hinaus gesendet. Auf diese Weise wird Patrick unfreiwillig als der “Löwenmann” oder der “Katastrophenmann” bekannt. Fortan einarmig taucht er immer dort vor der Kamera auf, wo schräge Storys lauern oder wo seine Anwesenheit die passende Würze bringt. Obwohl ihn diese Inszenierungen anwidern, führt Patrick sein Leben auf diese Art weiter.
Bis zu dem Tag, an dem unvorbereitet plötzlich eine Spenderhand zur Verfügung steht. Kaum ist die Hand transplantiert, scheint sie in Patrick etwas zu verändern. Er entwickelt zarte, ernste und ehrliche Gefühle zu der verwitweten Frau des Spenders. Auch beginnt er sich plötzlich aktiv gegen die Ehrlosigkeit seiner Arbeit zu sträuben.



Irving erzählt in seinem Roman die Geschichte eines Menschen, der nicht in die Welt hinein passt, in der er lebt und der sich wandelt - sei es auch scheinbar nur unter dem Einfluss eines fremden Spenderorgans. Unmoralisch sind schließlich nicht nur die Nachrichten und Sensationsreportagen, mit den Wallingfords Sender sein Geld verdient, unmoralisch sind auch die Menschen, die in diesem Dunstkreis arbeiten. Durch sein Passivbleiben entzieht er sich dieser Welt aber nicht. Er lässt es weiterhin mit sich machen, reist mit Mikrophon und Kamerateam an jeden schicksalsgebeutelten Ort, lässt sich beschimpfen von ernsthaften Medienkritikern und von Zuschauern. Er beschimpft seine eigenen Kollegen, wie in dem Moment, als die Meldung kursiert, dass John F. Kennedy jr. mit einem Sportflugzeug abgestürzt sei und zu Tode kam.
obwohl er schon wußte, was er zu sehen bekäme - seine Kollegen, unsere selbsternannten Sittenrichter, wie sie ihre ernstesten Gesichter aufsetzten und ihre aufrichtigsten Stimmen ertönen ließen.
Bestimmt waren sie schon über Hyannisport hergefallen. Man würde, im Bildhintergrund, eine Hecke sehen, die obligatorische Ligusterbarriere. Hinter der Hecke würden nur die oberen Fenster des strahlend weißen Hauses sichtbar sein (sicherlich Mansardenfenster mit zugezogenen Vorhängen). Doch irgendwie würde der Journalist, der im Bildvordergrund stand, es schaffen, den Eindruck zu vermitteln, als wäre er eingeladen worden.
Er lässt sich widerstandslos von jeder begierigen Frau ins Bett zerren. Mit der gesamten weiblichen Belegschaft der New Yorker Redaktion war er schon intim. Im Laufe der Geschichte wird viel “miteinander geschlafen” und sexuelle Anarchie zelebriert.
Erst mit der Transplantation wird in Wallingford der Wunsch laut, mit Ms Clausen (der Frau des Handspenders) zusammen zu leben und ihren gemeinsamen Sohn groß zu ziehen. Nur ausgerechnet hier versagt seine einmalige Anziehungskraft auf Frauen. Ms Clausen hat von Wallingford das Kind bekommen, was sie wollte und zieht sich anschließend von ihm zurück. Dies verletzt ihn tief, aber hält ihn von seinem Wunsch nicht ab. Bereitwillig setzt er sich dem Schmerz der Sehnsucht aus. Es sieht so aus, als habe Patrick Wallingford wirklich endlich verstanden, was Lieben bedeutet.

John Irving schreibt seinen Roman in gewohnter Manier - gut gelaunt und einfühlsam. Die Funktion der skurrilen Charakterfigur übernimmt diesmal eine kleinere Nebenfigur, die ab Mitte des Buches kaum noch eine Rolle spielt. Doch diese ist dafür umso drolliger und sehr sympathisch. Auch ein bescheuerter Hund hat in diesem Zusammenhang seinen Auftritt.
Mit Frauen hat es Irving in dem Roman nicht so gut gemeint. Sie treten oft als vereinnahmend auf, sind manipulativ, kühl und berechnend oder übernehmen den Part der Von-Patrick-etwas-fordernden (oder mehreres gleichzeitig). Die reichlichen Kopulationsszenen mit wallingford´scher Beteiligung waren mir persönlich zwar etwas zu reichlich gesäht (was auch keine Kunst ist), aber in ihren Beschreibungen beeindruckend unerotisch/ unromantisch, teilweise sogar lächerlich. Das diente hinreichend als Entschädigung.
Insgesamt hätte der Roman durchaus auch 100 Seiten kürzer geraten können, dafür die eine oder andere Schnachselei gespart und den Hauptcharakter etwas weniger lang in der Luft schweben gelassen werden können - aber das ist sicherlich subjektiv. Auch die sehr einseitige Darstellung der bösen, bösen Medienleute entbehrt zwar grundsätzlich nicht jeglicher Wahrheit, richtig aufschlussreich wäre es aber erst geworden, wenn man auch die moralisch wertvolle Seite vom Fernsehen gesehen hätte.

 
Insgesamt hat mir der Roman wieder gut gefallen - wenn er es auch nicht zum Lieblings-Irving-Buch schaffen wird. Er bietet verrückte Charaktere, eine schöne und sinnliche Geschichte, die Frage nach der Moral und nach dem Lebensglück. Nur diesmal keinen Bären.

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