Dienstag, 6. März 2012

Uwe Tellkamp: Der Turm


Der Turm, Uwe Tellkamps großer 1000 Seiten Roman über die nach fast 40 Jahren Arbeiter und Bauernstaat übrig gebliebenen Reste einer bildungsbürgerlichen Welt in der untergehenden DDR. In den Vorkriegsvillen der „Türmer“ sitzen bereits der schwarze Schimmel und die von der kommunalen Wohnungsverwaltung einquartierten unerzogenen „Kinder der Nomenklatura“ aber diese intellektuelle bildungsverrückte Welt lebt trotzdem weiter, ihre Protagonisten halten die Ideale hoch und verachten das Diktat der Partei. Selbstverständlich kann das eigentlich nicht gut gehen denn Unabhängigkeit hat keinen Platz im real existierenden Sozialismus aber zum Glück sind Staat und seine Repräsentanten in keinem besseren Zustand als die Villen in Dresden Loschwitz/Weißer Hirsch.     


Der Turm ist Uwe Tellkamps zweiter Roman und wurde mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet Mit erreichen von Platz eins der Bestsellerliste wurde das Buch gleichzeitig auch ein großer kommerzieller Erfolg. Uwe Tellkamp geboren in Dresden 1968 wurde vom gewünschten Medizinstudium in der DDR ausgeschlossen, studierte so erst nach der Wende Medizin und arbeitete bis 2004 als Arzt bis er diese Tätigkeit zugunsten einer Schriftstellerkarriere aufgab. 


Der Roman erzählt die Geschichte dreier Menschen und ihrer Umgebung über die Jahre 1982 bis zum Mauerfall 1989. Zu Beginn des Romans ist Christian Hoffmann ein Schüler kurz vor Antritt der EOS (DDR Äquivalent zur Gymnasialen Oberstufe ab der 10 Klasse), sein Vater Richard Hoffmann Oberarzt und Leiter der Unfallchirurgie an der Medizinischen Fakultät Dresden und sein Onkel Meno Rohde Lektor im Verlag Dresdener Edition. Die Erzählperspektive wechselt unregelmäßig zwischen diesen Personen, dem Tagebuch von Meno Rohde und manchmal einer unbekannten Erzählstimme, so wird Stück für Stück eine ganze Welt geschaffen und erklärt. Jede der Personen kämpft mit dem System auf seine Weise, Richard schlägt sich mit Versorgungsproblemen in der Klinik, sozialistischer Politik in der Medizin und noch viel mehr mit den Geistern seiner Vergangenheit, den Stasikontakten und seiner Affäre samt unehelicher Tochter herum. Meno ist arm aber stolz, stets mit den großen Intellektuellen des Staates in Kontakt, muss Schriftstellern erklären wir sie Ihre Bücher am besten selbst zu zensieren haben und gibt so den bewussten Zeugen beim Sturz in den Abgrund. Allen gemein ist die Einstellung zu Gegenwart:
„und manchmal dachte ich, daß die Türmer sich auf ebenso sonderbare wie typische Weise durch die Zeit bewegten: in die Vergangenheit ging ihre Zukunft, die Gegenwart war nur ein blasses Schattenbild, eine unzulängliche und verkrüppelte Variante, ein fader Aufguss der großen Tage von einst, und manchmal hatte ich auch den Verdacht, daß es gut war, wenn etwas in die Vergangenheit sank, wenn es starb und verdarb, das die Türmer es insgeheim billigten, denn dann war es gerettet – es gehörte nicht mehr der Gegenwart an, aus der man floh, und oft wurde genau das, war es Tod, plötzlich in den Himmel ihrer Wertschätzung gehoben, was man, als es lebte, nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte.“
Die intensivste Geschichte ist die von Christian einem empfindlichen und sehr intelligenten Jungen auf der Suche nach sich selbst, der stets den Druck spürt, die Erwartungen seiner Eltern an Bildung und Erfolg mit den Erwartungen des allgegenwärtigen Staates in Einklang zu bringen. Den Eltern ist Bildung das höchste Gut:
„Wissen, Wissen, Namen, Namen. Gehirne wie Schwämme saugten alles auf, bis sie trieften von Kenntnissen, die sie nicht wieder hergaben, denn diese Schwämme konnte man nicht quetschen. Wissen war, was zählte; Wissen hieß der gehütete Schatz derer hier oben. Wer nichts wusste, schien nichts zu gelten. Kaum ein schlimmeres Schimpfwort als „Banause“.“
Den Sozialismus können sie daher nur ablehnen. Den Staat vertreten durch die Schule interessiert dagegen nur die Folgsamkeit seiner Schäfchen, Bildung wird eher misstrauisch beäugt, so wird Christian zu ständigem Selbstverrat gezwungen. Diese Situation erzeugt in ihm schnell Abneigung gegen beiden Seiten, gegen die Eltern die ihn regelrecht das Lügen trainieren lassen, genau wie gegen die Lehrer die ständig auf offene Deckung lauern. Er fühlt sich falsch im Leben, will ein Großer Wissenschaftler werden, es allen beweisen, kann aber damit nur scheitern, bereits die durch seine natürliche Schüchternheit eh schwierige Suche nach der ersten Freundin scheitert am allgegenwärtigen Misstrauen:
„Also muß ich deiner Meinung nach, ehe ich mich verlieben darf, erst ein Dossier über das Mädchen anlegen?“ „So ist es, erwiderte Meno kalt. Ich kann dich besser verstehen, als du vielleicht glaubst. Nein, man darf nicht jung sein hierzulande.“
So spiraliert sein Leben wie das eines Alkoholikers der es einfach nicht lassen kann stetig nach unten. Die Probleme beginnen bereits in der Schule und vergrößern sich exponentiell, als er dem Wunsch des Vaters folgend Medizin studieren will und so praktisch dazu gezwungen ist sich „freiwillig“ satt der 1,5 Jahre, 3 Jahre zum Militär zu verpflichten. Dort nennen ihn die Kameraden „Nemo den Einsamen“ der schlussendlich nach §220 Öffentliche Herabwürdigung des Staates in der Isolationshaft der Militärstrafanstalt Schwedt das Innerste der DDR erreicht:
„Jetzt war er ganz da, jetzt mußte er angekommen sein. Er mußte, dachte Christian, er selbst sein. Er mußte nackt sein, das bare, blanke Ich, und er dachte, daß nun die großen Erkenntnisse und Einsichten kommen müßten, von denen er in der Schule und zu Hause geträumt hatte. Er hockte nackt auf dem Fußboden, aber die einzige Erkenntnis, die kam, war, daß man fror, wenn man einige Zeit nackt auf den Steinen hockte. Daß man Hunger und Durst hatte, daß man den Puls zählen kann, daß man auch in der Dunkelheit müde wird, daß man eine Weile nichts hören kann außer dumpfer Stille, und daß dann das Ohr beginnt, sich selbst Geräusche herzustellen, daß das Auge versucht, ständig Feuerzeugflämmchen zu entzünden, hier und dort und dort, und daß man in der Dunkelheit verrückt wird, auch wenn man noch so viel Gedichte kennt, Romane gelesen, Filme gesehen und Erinnerungen hat. “
Dort ganz tief drinnen, ist nichts als Leere. Die ganze gelernte Kultur vergessen in der Kälte des Sozialismus, so bricht dieses Utopia der Arbeiter die Sehnsüchte der Suchenden.

Das Buch erinnert in seiner Struktur an die amerikanischen Gesellschaftsromane der Postmoderne, es besteht aus übergeordnete Geschichten mit Charakteren die einem nahe gehen, einem so Geschichte an Hand ihres Lebenslaufes erleben lassen, aus kalten unbeteiligten Blicken auf das große Ganze und vielen kleinen Skizzen zum Abrunden der Welt, das erzeugt wahrhaft epische Breite. Tellkamp widmet sich allen Vorgängen des Lebens, skizziert ausführlich Tauschgeschäfte, Seilschaften, allgemeinen Mangel, Misstrauen und Verzweiflung aber auch den Zusammenhalt der Türmer. Viele Szenen über Tauschgeschäfte und den Beziehungen die dazu notwendig sind kommen anfangs sehr lustig daher, regelrecht urkomisch ist zum Beispiel die Jagd der Ärzte nach dem schönsten Weihnachtsbaum inklusive nächtlichem Diebeswettrennen mit Förster und Pfarrer in Weihnachtsmannkostümen durch den Winterwald. Aber je länger das Buch wird, je schaler lässt Tellkamp diese Komik werden, denn selbst wichtige Medikamente müssen auf diese Weise beschafft werden. Aber nicht nur der Komik des privaten Ersatzteilhandels wiederfährt diese Entwicklung auch die Menschen emanzipieren sich Stück für Stück vom Staat bis auch noch letzte Hemmungen, letztes Vertrauen weg sind und nichts zurückbleibt außer dem Gedanken, dass es nicht mehr schlechter werden kann.

Christian, der sicher (gegen jede Beteuerung Tellkamps) als das Alter Ego des Schriftstellers betrachtet werden kann, steht stellvertretend dafür das gerade den jungen Menschen der Staat nichts mehr bieten kann und Menos Besuche bei den Großkopferten zeigen, das selbst diese vergleichsweise wenig von ihrer Stellung haben. Für einen westdeutschen Industriellen muss der „Luxus“ der Schriftsteller, Betriebsleiter oder Landesfürsten, ja selbst des mächtigsten Privatunternehmers der DDR, Manfred von Ardenne, in Tellkamps Buch unter dem Namen Baron von Arbogast auftretend, gering erscheinen. Ausführlich werden auch die Unbeliebtheit der russischen Besatzer, gedankenlose Umweltzerstörungen und die massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten erklärt. Ein interessanter Punkt den Tellkamp am Alten vom Berge (steht wohl für die reale Person von Franz Fühmann) thematisiert, sind die Wechselbiographien, Menschen die von Diktatur zu Diktatur gelebt haben fast nichts anderes mehr kennen und eigentlich fest auf der Seite des Sozialismus standen. Aber auch bei ihnen steigt Stück für Stück die Enttäuschung über die Realität und geht häufig direkt in Selbstmitleid über, aber, wie der reale Franz Fühmann auch, kann und will der Alte vom Berge am Schluss noch einmal aufbegehren. So bleibt am Ende das Gefühl das hier ein ganzer Staat geschlossen beschlossen hat, dass man einen falschen Weg gegangen ist, ein etwas zu sehr sehr versöhnliches, aber in Anbetracht der friedlichen Revolution ein auch nachvollziehbares Bild.


Sprachlich eröffnet Tellkamp analog zur Handlung eine ganze Welt. Vom hart derben Slang der Stasi und Militärs, über die träumerischen Töne Christians bis zu den verspielten selbstverliebten manchmal unendlichen Satzbauten aus Menos Tagebuch. Jeder Charakter hat seinen Ton und jede Umgebung ihre eigene Färbung, präzise wie ein Arzt beschreibt Tellkamp jede Kleinigkeit des Alltags jede menschliche Regung und jedes Ornament an den Wänden der Villen. Das ist meist ganz wunderbar kann speziell bei Menos Einschüben aber auch mal ein wenig ermüdend werden.


Der Roman balanciert so sprachlich wie inhaltlich auf schmalem Grat, immer da wo der Text ein wenig um Relevanz kämpft, in den vielen Skizzen den roten Faden zu verlieren droht, wird das alles Zuviel, wäre weniger mehr gewesen. Die Belohnung für die Akribie Tellkamps erhält man aber im deutlich größeren Teil des Buches, in vielen eindringlichen und bewegenden Passagen die eine untergegangene Welt wiederauferstehen lassen, dort ist es ein großer Roman, ein Gesellschaftsroman wie es ihn über die DDR noch nicht gab, ein Roman der den häufig mit ihm gemachten Vergleich mit den Budenbrooks tatsächlich standhält.


Kurzum: große Kunst!

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