Sonntag, 11. März 2012

Peter Stamm: Blitzeis

Dieses Buch ist eine Sammlung von neun kurzen Geschichten und Erzählungen. Sie sind alle nicht besonders lang, die kürzeste geht gerade mal über zwei Seiten.
Jede der Erzählungen stellt eine Momentaufnahme aus dem Leben fremder, gesichtsloser Menschen dar. Man erfährt nichts aus ihrer Vergangenheit, nur diesen einen Ausschnitt der Gegenwart. Und trotzdem hat man nach diesem kurzen Ausschnitt das Gefühl, die gesichtslosen Protagonisten verstehen zu können.



Thematisch widmet sich Peter Stamm vor allem dem Thema Liebe, Erwartungen, Scham und dem Leben des Alltags. Nichts, was in diesen Erzählungen geschieht, ist besonders ungewöhnlich, spektakulär oder heldenhaft. Im Gegenteil, die Protagonisten wirken nicht wie jemand, der Großes vorhat oder auf irgendeine Weise durch persönliche Stärke heraus sticht. Es sind ganz normale Leute, manchmal ganz langweilig und träge, das Leben trägt sie wie durch Zufall in die Situationen, in denen Peter Stamm sie beschreibt. Manchmal stehen sie ihr Schicksal tapfer aus, manchmal hocken sie feige da und schauen zu, was passiert.
Man begleitet beispielsweise zwei Pärchen beim Italienurlaub, den eine der beiden Frauen dazu nutzt, um sich von ihrem Partner zu trennen. Obwohl der verstoßene Exfreund die Beziehung noch am Vortag als vollkommen zukunftslos bezeichnet hat, ist er von der Trennung schwer getroffen. Oder der Leser schließt Bekanntschaft mit einer Frau, die an einer schweren Form der Hepatitis erkrankt ist und wegen der extrem hohen Ansteckgefahr von ihrem Mann zunächst sexuell, anschließend auch persönlich verstoßen wird.
Die Tragödien, die sich abspielen, werden nur kurz angespielt, der Vorhang kurz beiseite gezogen und anschließend sofort wieder geschlossen. Es bleiben Momentaufnahmen aus dem Leben völlig gewöhnlicher Menschen.


Trotzdem, dass scheinbar nichts Spannendes in diesen neun Geschichten passiert, gelingt es Stamm, die Stimmung jeder Erzählung mit wenigen Zeilen unheimlich treffend anzudeuten. Es entsteht kein in Stein gemeißeltes, klares Bild sondern vielmehr eine zarte, vage Skizze, die Idee und Intention der Geschichte erkennen lässt. Die Töne, die er anschlägt, sind leise und keineswegs predigend oder mitleidsertränkend. Sie hinterlassen eher ein Gefühl von Schwermut, vielleicht auch Ernüchterung. 
“Weil er sagt, du bist wie ein Schwan. Immer auf dem See, majestätisch und ruhig. Doch das Ufer wirst du nie betreten. Weil ein Schwan, wenn er ans Ufer geht, wie eine dumme Gans aussieht. Ein Vogel sein und niemals fliegen, sagt er, von einem Lied träumen, aber es niemals singen dürfen.” 
Trotz dieser ergreifenden Erzählweise, hinterließ Blitzeis bei mir Ratlosigkeit. Die Geschichten geben keine Antworten, sie stellen nur Fragen und manchmal nicht einmal das. Sie zeigen einen kurzen Blick auf das Leben anderer Menschen, von denen man mehr erfahren möchte, doch dazu kommt es nicht. So entsteht keine tiefgreifende Geschichte, keine vielschichtige Charakterisierung oder Entwicklung - sei´s zum Guten oder zum Schlechten. Alles bleibt wie es ist und wenn die Geschichte der Protagonisten erzählt ist, hat man als Leser das Gefühl, dass es danach genauso weiter gehen wird.
Blitzeis will uns Leser offenkundig nicht erleuchten oder beraten, sondern sensibilisieren für die lautlosen Geschehnisse im Leben, die wir sonst übersehen würden, weil wir zu sehr mit den “wirklich wichtigen Dingen” beschäftigt sind.
Eine echte Leseempfehlung also für alle, die von einem Buch nicht in erster Linie unterhalten werden wollen, sondern die es wagen, für einen Moment die Zeit anzuhalten und sich in einen Kosmos entführen lassen wollen, den sie schon lange genau zu kennen geglaubt haben.

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