Freitag, 30. März 2012

Florian Felix Weyh: Toggle

Die Wahlen in einer Demokratie haben eine entscheidende Schwäche: Jeder Bürger besitzt dieselbe Stimmenkraft. Der gebildete und weltgewandte Professor hat genau soviel Einfluss auf das Wahlergebnis wie ein verblödeter Kleinkrimineller. Viel gerechter wäre es doch, wenn jeder Stimmengewicht hätte entsprechend seines Wertes für die Gemeinschaft. Gute Menschen hätten ein starkes Gewicht, schlechte Menschen ein geringes.
Wie man herausfinden soll, ob du zu den Guten oder zu den Schlechten gehörst? Ach, du hinterlässt im Internet so viele Spuren und Daten, das genügt, um dich genau zu studieren...
Der italienische Philosoph Ferdinando Galiani aus dem 17. Jahrhundert verfasste in einem ketzerischen Text seine Idee von der Gewichtung von Stimmen nach “Menschenwert”. Diesen Ansatz findet man in dem amerikanischen Internet-Konzern Toggle sehr spannend und so wird eine neue Applikation entworfen, die auf Galianis Idee ansetzt: Toggle Democracy (kurz TOD).
Praktischerweise wird Galianis uralte Schrift durch eine andere Applikation zurück ins Bewusstsein der Menschen befördert. In der Datenbank von Toggle Books gibt es von dem Buch fortan eine digitale Kopie und sie soll die Leser mit der Idee der gewichteten Wählerstimme von Galiani infizieren.

Toggles ehrgeizige Pläne einer Revolutionierung der Demokratie werden jedoch von einem Konkurrenten gestört. Die ebenso populäre Social Network Plattform Myface, die sich in der Hand eines russischen Inhabers befindet, will Toggle die Position als größtes und einflussreichstes Dotcom-Unternehmen streitig machen. Dagegen muss Toggle vorgehen und es wird eine Konferenz einberufen, in denen Journalisten und Kritiker des Internet-Marktes großzügig zu Wort kommen dürfen. Toggle will Rede und Antwort stehen, um seinen Ruf als zweifelhafte Datenkrake mit bösen Hintergedanken abzuschütteln. Das Motto von Toggle lautet nämlich: Don´t be evil.
Mitten in diese Marketing-Kampagne platzt schließlich der unerwartete Tod einer Toggle-Mitarbeiterin. Sie war Teamleiterin für das Projekt Toggle Democracy. Und nun fängt ihr Nachfolger an, den Sachen auf den Grund zu gehen.



In dem Buch stecken einige starke Ideen. Relativ schnell kommt Weyh mit einem kritischen Denkansatz über digitalisierte Bücher um die Ecke.
“Wir verlieren das Gefühl für Veralterung, Überholung, falsches Wissen”, erläuterte der Nobelpreisträger. “Die aufeinander aufbauende Kausalität des wissenschaftlichen Fortschritts löst sich in immerwährende digitale Gleichzeitigkeit auf. Alles - auch längst Abgelegtes! - wird ähnlich plausibel. Man sieht Daten nicht an, wie alt sie sind. Büchern schon.”
Allein damit könnte man sich ein halbes Buch lang beschäftigen. Doch die Sache wird schnell wieder fallen gelassen. Man lernt Olga kennen, die Tochter eines anderen Toggle-Mitarbeiters. Sie traut dem Internet nicht so recht über den Weg, möchte sich lieber offline beschäftigen und das macht sie bei den Gleichaltrigen schon ein Stück weit zur Außenseiterin. Auch das ist nicht ganz uninteressant. Derartige Tendenzen lassen sich ja schon in der heutigen Realität beobachten (kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen als Nicht-Facebook&Twitter-Mitglied). Doch auch das ist es nicht, womit sich Weyh in seinem Roman beschäftigen will.
Das zentrale Motiv des Buches ist der völlig revolutionäre und unmoralische Neuentwurf der Demokratie von Galiani. Diese Idee und die Möglichkeiten eines Internetgiganten, dem persönliche Daten über jeden braven Bürger nur so ins offene Maul strudeln - ja, das ist genau die Kombination, die zu einer spannenden und erschreckend realistischen Zukunftsvision gestrickt werden könnte.

Doch leider geschieht das nicht. Die Grundidee wird lediglich angedeutet, nicht weiter gedacht, keine Entwicklung beschrieben - weder in den Köpfen der Menschen, noch in den Auswirkungen auf die Welt. Anstatt dem Ausgangssetting auf glaubwürdige Weise seinen Lauf zu lassen, beschäftigt sich der Autor lieber mit den zwischenmenschlichen Irrungen und Wirrungen innerhalb des Toggle-Unternehmens, den ungeschickten Ermittlungen eines beliebigen Toggle-Mitarbeiters,
zusätzlich noch etwas Dazwischenfunken der CIA, und den kühlen Sprüchen des Hacker-Prototypen. Am Ende wird das Ganze wie eine neumodische Mafia-Gangster-Geschichte zurecht gefeilt. Die Bosse von Myface und von Toggle kämpfen um den Einfluss bei Toggle Democracy und damit um nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Exzellenz-Eliten mischen bei dem ganzen Tauziehen auch noch mit, denn sie wollen selbstverständlich erreichen, dass die Intelligenz ganz besonders stark auf den Menschenwert einwirkt.
 
Die wirklich zündenden Ideen werden nebenbei abgefrühstückt, übrig bleibt ein sehr vertraut vorkommendes Fiesling-Szenario mit Weltherrschaftsambitionen (dass Toggle Democracy erst in der Beta steckt und auch erstmal in irgendeinem Staat als Wahlverfahren anerkannt werden muss, bevor man damit irgendwas beherrschen kann, macht offenbar nichts). Jeder hat seine Rolle, der Dotcom-Unternehmer mimt den machtgierigen und rücksichtslosen Menschenverachter, der Hacker wird verkörpert vom Chaoten, der in Geld schwimmt aber aussieht, als hätte er seine Garderobe aus der Altkleidersammlung und das unschuldige, internetkritische Mädchen spielt das letzte Einhorn, was den echten Büchern ihre Zuneigung schenkt (ihr versteht schon: ENTWEDER Internetuser ODER Bücherleser). Warum es in dem Buch eine Tote gibt, habe ich übrigens bis heute nicht verstanden - der Mord war völlig nutzlos und (nachdem der Mörder sich am Buchende nebenbei mal zu erkennen gibt und seine Motivation in zwei Sätzen erklärt) haarsträubend willkürlich.

Trotz der tollen Ideen und der süffigen Schreibweise, bei der man wirklich nicht so leicht ins Stocken gerät, war der Roman für mich etwas enttäuschend. Weyh hat seine guten Ideen im eigenen Buch zu Diensten einer affirmativen Weltsicht verunglimpft. Wenn man den ganzen Gangster-Overkill streichen und sich auf eine wirklich minimalistisch gehaltene Was-wäre-wenn-Geschichte konzentrieren würde, käme hierbei ein wirklich grausames Buch heraus, was den Zeitgeist zielsicher trifft. In seiner jetzigen Form jedoch ist zu viel Schaumgummi-Füllmasse mit zu viel Klischee-Aroma.
Gern hätte ich widersprochen aber ZEIT.de hatte Recht: Böses Internet.



PS.: In eigener Sache möchte ich mal in die Welt hinaus fragen, ob eigentlich alle Leute Programmierung für eine Art Voodoo halten. Es deutet sich in diesem Roman an, dass Formeln ganz wichtig sind für die Programmierer (Formeln, die ein Philosoph im 17. Jh. aufgeschrieben hat(?)) und bei den Team-Meetings dürfen die Mitglieder sich nur per Instant-Messenger-Nicknames ansprechen, auf Befehl lässt sich eine Information spurlos auf der ganzen Welt von allen Medien vernichten... alles riecht nach Mysterium, Geheimnissen und Verschwörung. Und warum stehen eigentlich alle, die da mitmachen, unter dem Verdacht der Unmenschlichkeit (moralisch, sozial und verantwortungsbezogen)?

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