Montag, 13. Februar 2012

Stanislaw Lem: Sterntagebücher

Die Presse berichtete, Tichy habe sich jemandes Hilfe bedient, ja er habe nicht einmal existiert und seine Werke soll eine Einrichtung geschaffen haben, ein sogenannter “Lem”. Gewissen extremen Versionen zufolge soll “Lem” sogar ein Mensch sein. Nun weiß aber jeder, der sich  auch nur ein wenig mit der Geschichte der Kosmonautik befaßt hat, daß LEM die Abkürzung für die Bezeichnung Lunar Excursion Module ist, das heißt für den forschenden Mondbehälter, der in den USA im Rahmen des “Apollo-Projekts” (der ersten Landung auf dem Mond) gebaut wurde. [...] LEM war zwar mit einem kleinen Hirn (Elektronenhirn) versehen, doch diente dieses Gerät lediglich begrenzten Navigationszwecken und hätte nicht einen einzigen sinnvollen Satz schreiben können. (Vorwort)


Bei den Sterntagebüchern handelt es sich um eine tagebuchähnliche Aufzeichnungen des Entdeckers und Forschers Ijon Tichy. Er beschreibt darin seine erlebten Raumfahrten, Abenteuer und sonstige interessante Erlebnisse. Die Geschichtensammlung befasst sich mit vielen Themen, die für einen Science Fiction Autoren eine Rolle spielen. Diese Themen werden dabei überwiegend von satirischer Seite betrachtet, durch den Kakao gezogen oder Lem regt einfach auf humoristische Weise zur Skepsis an.
Typischerweise findet das Thema der Gedankenspielereien und Zeitreise-Experimente ihren Platz in den Erzählungen. Als Beispiel sei genannt die Geschichte von der kaputten Hubvorrichtung, die Ijon Tichy allein nicht reparieren kann. So lenkt er seine Rakete mitten in einen Gravitationsstrudel, deren relativistische Effekte eine Zeitkrümmung hervorrufen, sodass Tichy bald darauf selbst in mehrfacher Ausführung von verschiedenen Wochentagen in seiner Rakete steht.
Ebenso gern erhält die Religion ihren Auftritt. Besonders ergreifend dabei sind die Klagen des Pater Lazimon, eines Dominikanermönchs, der die ganze Galaxie mit christlichem Glauben beglücken will. Nun muss der fromme Pater erkennen, dass es nicht nur unerhört vernunftaffine Völker gibt, deren unerschütterliches Vertrauen in die Naturwissenschaft absolut resistent gegen Bekehrungsversuche sind (ja, die im Gegenteil ihre eigenen Missionare in technikbegeisterte Ingenieure verwandeln) - nein, es gibt auch Planeten, deren Bewohner so treuherzig und brav sind, dass sie den christlichen Glauben umstandslos anerkennen und augenblicklich ohne Einschränkungen praktizieren. Sie legen die Feldarbeit nieder und beten sie den ganzen Tag für ihr Seelenheil, anstatt der sündigen Fleischeslust zu verfallen, sakristeien sie sich und halten sich an den Zölibat. So ist diese Volk zwar ein christianisiertes, aber zeitgleich ein von Hungersnot und vom Aussterben bedrohtes Volk.
Seit zwei Jahrtausenden verkündet die Kirche den Vorrang der Seelenrettung vor den zeitlichen Dingen, aber niemand hat das wörtlich genommen, so wahr mir Gott helfe!
Auch klassisch aber mit besonderem Misstrauen begleitet, tritt die Technisierung und Robotronik in Lems Geschichten auf. Dazu erzählt er manche unheimliche und schauerhafte Geschichten von Maschinen, die durch völlig logisches Entscheiden und damit scheinbar fairen Ausgangsbedingungen zu katastrophalen Ergebnissen kommt. 
Eng damit verwandt sind die Themen der Philosophie. Allen voran die Frage, was einen Menschen überhaupt zum Menschen macht. Hierbei erhält unter anderem ein Kybernetiker seinen Auftritt, der ernsthaft eine Seele gebaut hat: Ein Gefäß, in dem das Bewusstsein eines Menschen für alle Ewigkeit aufbewahrt werden kann. Solcherlei Geschichten regen zum Gruseln an und stellen trotzdem richtigerweise in Frage, ob so etwas wie eine Seele überhaupt notwendig oder gar sinnvoll ist.
Auf Kriegsfuß scheint Lem auch mit dem Kapitalismus zu stehen. An mancherlei betont überspitzten Beispielen wird gezeigt, dass die exakte Anwendung der Grundregeln des Kapitalismus nur zu Blödsinn führt. Meist verbunden mit einer grundsätzlichen Überzeugung der Bevölkerung, dass dieses System so aber genau richtig sei. So stellen die gefräßigen Drachen von Ardenien für die Bewohner zwar eine dauerhafte Lebensbedrohung und Geruchsbelästigung dar, aber die Fütterung dieser Drachen hat reihenweise staatlich geförderte Projekte zur Anpassung der Infrastruktur und der Lebensmittelproduktion ausgelöst. Die Wirtschaft würde zusammenbrechen, wenn es auf einen Schlag keine Drachen mehr gäbe. Völlig richtig.
Besonders oft und gern geht es den Gelehrten und ihrer wissenschaftlich korrekten Arbeitskultur an den Kragen. Ihre nach strengen Richtlinien vorgeschriebene Fachsimpelei, die so gern jeden Kontakt zum eigentlichen Bezugssystem verliert, findet in vielerlei Varianten humoristisch überzeichnete Gastauftritte. So etwa die Entdeckung einer seltsamen Rasse, die gern Reisende überfällt und keine festen Körper zu besitzen scheint. Eine Gewebeprobe ergibt, dass es sich bei diesen Lebewesen um mobile Mutationen der Kartoffelpflanze handelt. Die Erklärungsversuche für diese Entdeckung lesen sich etwa folgendermaßen:
Die Semantiker sagten, alles hänge davon ab, wie man die Worte “Kartoffel”, “ist” und “beweglich” verstehe. [...] Und sie gingen daran, eine Enzyklopädie der Kosmischen Semiasologie abzufassen, wobei sie in den ersten vier Bänden die operative Bedeutung des Worts “ist” erörterten.
Die Neopositivisten behaupteten, daß nicht Kartoffelknäuel unmittelbar gegeben seien, sondern Knäuel von Sinnesempfindungen - und sie schufen daraufhin logische Symbole, die “Empfindungsknäuel” sowie “Kartoffelknäuel” bezeichneten, stellten eine Satzrechnung aus lauter algebraischen Zeichen auf und gelangten, nachdem sie ein ganzes Meer von Tinte verschrieben hatten, zu dem mathematisch exakten und über jeden Zweifel erhabenen Ergebnis 0 = 0.
Es geht in den Sternentagebüchern nicht darum, eine fantastische Abenteuerreise zu schildern, denn die Fantasie steckt nicht in der Vielfältiigkeit der bereisten Planeten (tatsächlich beschreibt Lem fast alle Außerirdische als menschenähnlich und in den Illustrationen mancher extraterrestrischer Bewohner kommt dem Leser der Knochenbau verdächtig bekannt vor). Die Fantasie steckt hier in den Gesellschaftsstrukturen, Ideen der Wissenschaftler, Probleme und Komplikationen mit anderen Organismen oder Robotik.
Durch das gesamte Buch zieht sich ein lakonischer Lem-Humor, der sich zum einen in urkomischen Veräppelungen niederschlägt oder auch einfach durch zusätzlichen Nonsens geschaffen wird. Wie die Erfindung von essbaren Möbeln, Elektronikbauteilen und ganzen essbaren Raketen (in denen man allerdings keine Kinder transportieren sollte). Während Ijon Tichy so durchs All düst, klopft gern mal jemand an der Tür und will herein. Nasse Raumanzüge werden zum Trocknen einfach außen an der Rakete aufgehängt (und anschließend von räuberischen, weltalltauglichen Kartoffelpflanzen stibitzt). Durch diesen lakonischen Humor wirken die Erzählungen nie tadelnd oder predigend, obwohl sie größtenteils einen nachdenklichen Kern besitzen.
In den Erzählungen beschäftigt sich der Leser mit den Fragen, was einen Menschen als solchen auszeichnet, ob man bei einer Reise in die Zukunft älter wird, wie der kosmische Massentourismus auf fremde Welten reagiert und ob man einen Planeten verhaften kann.

Eine unvermeidliche Empfehlung für alle Anhänger der Sterntagebücher führt natürlich zu der korrespondierenden zdf-Fernsehserie “Ijon Tichy”. Die kultige Studenten-Produktion im Trash-Stil erzählt einige der Abenteuer, die in den Sterntagebüchern geschrieben stehen - etwas verkürzt und mit reichlich künstlerischer Freiheit (ich war geradezu schockiert, dass die Analoge Halluzinelle nur eine Erfindung des Ijon-Tichy-Drehbuchautoren ist). Wer sich dafür interessiert, kann sich die Folgen (bisher gibt es zwei Staffeln) in der zdf Mediathek anschauen:

Die Sprache Lems bewegt sich im gewohnten Stil, bedient sich gern dem Wortschatz aus Physik, Astronomie und Ingenieurswesen und erfindet von Herzen gern lateinische Bezeichnungen für andere Lebensformen. Da das gesamte Buch mit zwinkernden Augen zu lesen ist und darum vieles eh nicht so ernst genommen ist, muss man als Leser keine Angst haben, es mit schwerverdaulicher Kost zu tun zu bekommen. Im Gegenteil, wer mit trockenem Naturwissenschaftshumor etwas anfangen kann und nicht darauf beharrt, einen Handlungsroman mit zwischenmenschlichem Drumherum lesen zu müssen, sondern gern Denkanstöße mag (auch wenn sie auf amüsante Art verpackt sind), hat mit den Sternentagebüchern eine willkommene Science-Fiction-Abwechslung. Einsteigerfreundlich für alle Lem-noch-nicht-Kenner.

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