Sonntag, 26. Februar 2012

H. G. Wells: Menschen, Göttern gleich

Mr. Barnstaple hat die Nase voll von seinem unbefriedigenden Leben und beschließt, eine Auszeit zu nehmen. Als er auf der Landstraße dahin fährt, verreißt sich das Lenkrad seines Wagens, er scheint eine durchsichtige Mauer zu durchbrechen und auf einmal findet er sich in einer komplett anderen Welt wieder. Dies ist eine parallele Dimension der Erde, auf der auch Menschen leben - allerdings sind diese Menschen in ihrer Entwicklung etwa dreitausend Jahre weiter.

Der brave Mr. Barnstaple ist nicht als einziger in diese fremde Welt eingefallen - eine gemischte Gruppe unter anderem bereichert mit einem Politiker, einem Pfarrer, einer Sängerin und einem Lord sehen sich ebenso verdutzt um und vermissen die Landstraße, auf der sie eben noch unterwegs waren.
Die fremde Welt, sofort einstimmig mit Utopia getauft, sieht ganz anders aus als die Erde. Hier wachsen nur wunderbare Pflanzen, kein Gestrüpp und kein Unkraut. Der Leopard, den sie treffen, wirkt zahm und friedfertig. Bald treffen sie auch auf die Utopen selbst. Sie sehen aus wie Menschen, etwas größer und viel hübscher. Alle sind sie mit kaum etwas mehr als ihrer eigenen Haut bekleidet. Pater Amerton ist zunächst entsetzt. Aber die Utopen erweisen sich als außerordentlich gastfreundlich. Sie geben den Fremden Unterkunft, Essen und setzen sich mit ihnen zusammen, um die Lage zu besprechen.
Utopia ist sehr modern, wie sich schnell heraus stellt. Die hiesigen Menschen sprechen nicht einmal mehr, sondern übertragen ihre Gedanken direkt. Hier gibt es keine herrschende Kaste mehr, denn alle wichtigen Entscheidungen trifft derjenigen, der von dem Thema am meisten versteht. Auch Kriege und Hungersnöte wurden vollständig überwunden. Die Bevölkerung wurde auf kaum mehr eine Milliarde Utopen reduziert, so ist für jeden garantiert genug Nahrung vorhanden. Zu Pater Amertons weiteren Entsetzen leben die Utopen frei und ungebunden zusammen, Ehen wurden abgeschafft und wer ein Kind zur Welt setzen möchte, darf das nur, wenn es das Bevölkerungswachstum zulässt.
Krieg, Unterdrückung und alles, was Mr. Barnstaple aus seiner Welt kennt, gehören in Utopia der Vergangenheit an. Auch sie haben eine solch finstere Epoche durchlebt. Sie nennen es das Zeitalter der Verwirrung. Aber von den Übeln dieser Zeit konnten sie sich befreien.

“Überlasse die Dinge Gott, schreien sie, oder überlasse sie dem Wettkampf.” 
Mit Interesse hören die Erdlinge ihren Gastgebern zu. Barnstaple ist als einziger vollständig entzückt von dieser fantastischen Welt, doch der Rest der Reisegruppe entwickelt zunehmend Misstrauen und sogar Feindseligkeit gegenüber den unkonventionellen Lebensentwürfen der Utopen. Sie finden ihre eigene Erde aus verschiedenen Gründen besser als Utopia und wollen ihre persönlichen Moralvorstellungen durchsetzen. Ihnen kommt die Natur zuhilfe: Die Utopen haben Krankheiten und Parasiten vor Jahrhunderten ausgerottet und besitzen keinerlei Abwehrkräfte mehr. Kurz nach der Ankunft der Erdlinge bricht eine Grippe-Epidemie aus, die reihenweise Todesopfer fordert. Die aufmüpfigen Besucher wähnen eine mächtige Waffe - ihre eigene Ansteckgefahr - in ihrer Hand und schmieden Pläne, um Utopia unter ihre Kontrolle zu bringen.



“Menschen, Göttern gleich” ist die Erzählung von einer möglichen Zukunft, die auf den ersten Blick dem angestrebten Paradies gleich kommt. Alle Geißeln der Menschheit, alles Schlechte und Affenhafte ist in dieser Zukunftsvision überwunden, es herrscht Frieden, Handlungsfreiheit und Gleichheit. Lügen wird empfindlich bestraft, Bildung kann sich jeder Utope soviel aneignen wie er möchte, Geld wurde abgeschafft und alle arbeiten sie aus Freude und Überzeugung - nicht aus Pflichtgefühl.
So oder so ähnlich stellt man sich hierzulande gern die ideale Zukunft vor. Die Wurzeln allen Übels - nämlich Egoismus, Raffgier, Machtversessenheit und Niedertracht - wurden komplett aus dem Leben verbannt. Dazu gehören auch die Institutionen jener Grundübel, nämlich Regierungen, Banken, Ständegesellschaft und Eigentumsrecht: Sie wurden einfach abgeschafft. Das System in Utopia soll dem Menschen dienen - nicht umgekehrt.
Es wurde praktisch alles getan, um es möglichst allen Bewohnern so angenehm wie möglich zu machen.
Doch hört man den Erläuterungen länger zu, fällt bald auch auf, welche Blüten solch ein Gesellschaftsentwurf treibt, wenn man ihn konsequent zu Ende denkt. In ihrem Bestreben nach Vollkommenheit haben schließlich die Utopen nicht nur ihre eigene Organisation völlig umgekrempelt, sondern auch ihre Umwelt. Alles, was nicht nützlich oder wenigstens schön ist, wurde ausradiert. So entsteht als Ergebnis zwar eine Menschheit, die über eine unglaubliche Reinheit verfügt, aber die auch einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren hat.

In einer Welt der Furcht, Schwäche, Krankheit, Finsternis und Verwirrung mochten Mitleid, barmherzige Tat, Almosen und Hilfsbereitschaft mild und gütig erscheinen; aber in dieser Welt voller Gesundheit und tapferer Unternehmungen erwies sich Mitleid als etwas Verwerfliches.
Die Geschichte zeigt, dass es weder gut ist, jederlei Andersartigkeiten als schlecht abzuwerten und abzulehnen, noch eine solche Utopie blindlings und kritiklos nachzuahmen. Sie zeigt auch, dass es womöglich nie das Paradies auf Erden geben wird, weil eine jede Änderung unbeabsichtigte Nebeneffekte mit sich bringen kann. Im schlimmsten Fall ist die “verbesserte utopische Idealwelt” genauso grausam und schlecht wie vorher - nur eben andersartig.
In jedem Fall wird klar, dass es sehr viel Zeit braucht, damit eine Welt sich ändern kann. Ein neues System kann nur dann Realität werden, wenn alle mitmachen und dies geschieht nur, wenn alle einsehen, dass dieses neue System besser ist. Weiß der Himmel, ob es überhaupt jemals eintreten wird, dass ein ganzes Volk gemeinschaftlich eine Idee unterstützt.
All das zeigt zusammen genommen vor allem eins: Dass der Wunsch eines Utopias für Jahrhunderte und vielleicht für immer das bleiben wird, was es ist.

Die einzige sprachliche Besonderheit an diesem Buch ist die Reichhaltigkeit an Monologen. Sowohl Menschen als auch Utopen halten wechselseitig Ansprachen und Vorträge über ihre eigenen Motive und Charakteristiken ihrer Welt. Diese Form ist vielleicht etwas unspannend geraten - so erlebt der Leser nicht primär selbst, wie das Leben in Utopia abläuft und welche Besonderheiten es gibt. Das meiste wird einfach von den Rednern erzählt. Nur hin und wieder bekommt man Eindrücke davon, wie der Alltag in dieser Welt aussieht und wie sich die Grundstimmung anfühlt - nämlich in den Momenten, in denen Mr. Barnstaple Spaziergänge unternimmt und sich seine Gedanken zu all dem macht.
Nicht jedes Lebenskonzept Utopias wirkt überzeugend und realistisch. Dass wichtige Entscheidungen immer nur von demjenigen Utopen getroffen werden, der von dem Thema am meisten versteht, klingt zwar gut und logisch, aber findet man denn heraus, wer sich am besten mit der Materie auskennt? Und wieso züchten sie vegetarische Leoparden? Raubtiere haben in der Natur eine wichtige Aufgabe, folglich hätte man sie so lassen müssen, wie sie sind.
Nichtsdestotrotz ist ein interessanter Entwurf einer zukünftigen Welt gelungen. Er zeigt kühne Träume, Sehnsuchtsphantasien und ihre Konsequenzen. Manches davon wirkt frohlockend, bei manchem läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Wer gern mal wieder “Was wäre wenn” spielen möchte, hat mit diesem Buch reichlich Anregungen.

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