Donnerstag, 9. Februar 2012

Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht

Eine Liebesgeschichte im Sommer auf einer Ostseeinsel, so harmlos kann die äußere Wirklichkeit sein aber niemand kann für immer den Vorhang verschließen, ewig die Selbstlüge aufrechterhalten, endlos die Vergangenheit verleugnen, irgendwann bricht diese Idylle und stürzt in die Nacht. Das Böse im Menschen ist überall und zu allen Zeiten dasselbe, nur manchmal gibt es Zeiten und Orte an denen man es zu einfach hat, man es ungestraft herauszulassen kann, und wenn die Götter dann auch noch schlechten Humor beweisen kommt es zu Tragödien in Theben wie auf Stora Karlsö. Inzest, DDR, Naturschutz, Stasi, Adoleszenzprobleme 437 Seiten Parforcejagd durch brisante Themen.




Wie ich der aufgeräumt informativen Webseite der Künstlerin entnommen habe, ist der Zuname „Rávic“ ein Künstlername der Schriftstellerin, die anfänglich Buchhändlerin gelernt hat, um dann in Potsdam und New York Literaturwissenschaften, Psychologie und Amerikanistik zu studieren. Nach dem Studium arbeitete sie als literarische Übersetzerin und schreibt seit 2001 selbst Romane. Da wir hier im Internet sind spare ich mir mal das weitere abtippen biografischer Daten und verweise auf das kunstvolle Interview in der Sendung Druckfrisch (Druckfrisch war hier auch schon einmal Thema). Analog zum Interview gibt es hier keine Geheimniskrämerei zur Handlung, denn das Buch ist eher kein Handlungsroman, obwohl sich am Ende tatsächlich so eine Art Thriller samt Spannungsbogen aufbaut. 

Die Geschichte ist ein Rückblick, Erik ein 25jähriger Student blickt vom Schiff zurück auf eine Naturschutzinsel vor Schweden und erinnert sich der vergangenen Monate. Er betrat die Insel eher zufällig auf der Suche nach sich selbst, weniger zufällig mit ihm auf der Fähre war damals ein Mann namens Rainer Feldberg, beide wurden am Strand empfangen von der 41 jährigen Inez der Vogelkundlerin und Touristenführerin auf der Insel. Zwischen Inez und Erik entspannte sich schnell ein besonderes Verhältnis, eine romatische Liebesgeschichte, wenn da nicht der Wiedergänger ihrer DDR Vergangenheit in Person Feldbergs gewesen wäre. Mit gezielten Stichelleien verunsicherte er Erik, versuchte so das in Entstehung befindliche Konstrukt einzureißen aber obwohl Inez hilflos und wütend reagiert blieb Erik hartnäckig fragend am Ball.

„Du willst hören, wie jemand den Ruf verliert und die Freunde verliert und wie die Familie, die Zukunft, die Gesundheit, die körperliche und geistige Gesundheit – Betonung auf geistige – zerstört werden, sagte Inez“

Sie will vergessen aber die Vergangenheit lässt sie nicht Ruhe.

„Nur der Mensch, der täglich auf seinen zwei Beinen durch die Geschichte gelaufen ist, hat nicht auf einmal zwei neue Beine oder einen neuen Rumpf. Und das kränkt ihn, Erik. Und es kränkt ihn auch, dass er gezwungen ist, sich auf diese Weise an sein Leben zu erinnern. […] Es kränkt ihn, dass das sein Leben gewesen sein soll.“
Schließlich gibt es im Roman noch eine vierte Schlüsselperson: Felix Ton, heute Politiker damals auch Politiker, heute wie damals mit guten Verbindungen und einer Schwäche für anhängliche schwache Frauen. Ein Versteller, ein Schauspieler, ein Strippenzieher, das er selbst manchmal nicht mehr genau weiß was in ihm vorgeht.

„Was hatte man damals nicht alles gedacht, dachte er, und was dachte man nicht alles heute, und wie wenig hatte das eine oder das andere mit dem zu tun, was man wirklich dachte, dachte er. […] Wenn er ganz ehrlich war, dann wusste er zwar genau, dass er nicht so dachte wie draußen auf den Veranstaltungen, aber je länger er über diese Unterscheidung nachdachte, umso unmöglicher wurde es, das zu Ende zu denken, eine übermenschliche Verrenkung.“
Aber er weiß was für die Karriere gut ist, zum Beispiel seinen Sohn den er vor 25 Jahren mit seiner damals 16jährigen Jugendfreundin gezeugt hat und für dessen anonyme Adoption der Stasimann Feldberg gesorgt hatte, zu suchen und medial begleitet wieder familiär einzubinden. Dazu hatte er den alten Kumpel Feldberg losgeschickt.

So entspannt sich ein wahrhaft griechisches Drama auf der Vogelinsel. Die nächtlichen Erinnerungsschübe von Inez an ihr 16 jähriges Ich sind wahnhaft fiebrig wie eine Malaria, die nach langer Zeit wieder ausbricht, die Tage aber sind einer romantischen Liebe gewidmet. So steht bald jeder der drei Insulaner mindestens einmal am Abgrund der Steilküste.

„Sie weckt den Wunsch, sich hinabzustürzen, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, sich von der Kante weg fallen lassen, den Fuß nur ein Stück nach vorn zu schieben, das Gewicht zu verlagern und sich der Wirkung der Schwerkraft zu überlassen, ihrem Druck, ihrer Endgültigkeit; dieser Verlockung, sich einfach vorzubeugen und den Fall nachzugeben, sich ihm einen kurzen, berauschenden Moment lang hinzugeben, um dann für immer aufgehoben zu sein.“
Natürlich fragt man sich schnell ob die vielen Themen dieses Romans zu Viele sind, denn einiges ist sichtbar konstruiert, wie der Zufall der Begegnung an sich, auch die Macht Feldbergs, in der Jugend wie später, scheint übertrieben aber an das alles will man beim Lesen glücklicherweise meist nicht denken. Man wird stattdessen durch das Buch getragen von einer Sprache die für alles Worte und Symbolik findet, für Fieberträume wie für Liebe. Man fühlt den Sadismus  Feldbergs wenn er nur ein paar harmlose Fragen stellt, man fühlt die Enge und den Muff der untergehenden DDR der die 16 jährige Inez in die Arme Tons treibt, wenn der Wind über der Ostsee weht so fühlt man sich am Strand und in den Fieberträumen glaubt man die Sitze von Feldbergs Wartburg zu spüren. So durchlebt man die Gefühlswelten der Beteiligten glaubt Feldbergs Datsche zu sehen und die Lummen schreien zu hören, auf diese Art kann man auch mit dem schwierigen Ödipus Thema umgehen immerhin ist es frei von Kitsch und lässt Erik und Inez ihre Würde. Das ist große Kunst und wunderbar zu lesen. In manchen Situationen übertreibt es die Schriftstellerin mit ihrer Symbolik allerdings, irgendwann hat man denn Zusammenhang zwischen der Geschichte und dem Lummensprung auch ohne nochmalige Erklärung verstanden.

Aber ein Problem bleibt, denn was sagt einem am Ende des Tages so ein Roman? Die Handlung ist zu konstruiert um wirklich glaubwürdig zu sein, vor allem das lange beharren von Inez auf dem Nichtdurchschauen der Situation ist unglaubwürdig. Fast glaubt man, dass die Schriftstellerin das Thema zu spannend fand um es beim Erkennen der Gefahr zu vieler Kunstgriffe einfach wieder fallen zu lassen, so wird sie gezwungen am Ende noch mächtig die Nebelmaschine anzuschmeißen was nicht wirklich befriedigt. Die Stimmung in der DDR ist dagegen gut eingefangen auch die Problematik das viele Menschen mit der Gier nach Einfluss und Macht in der Stasi ein Zuhause geboten wurde wird gut erzählt, die entscheiden Szenen des DDR Adoleszenz Dramas sind aber im Vergleich zu der sehr aufwändig getragenen Inzest Tragödie vergleichsweise kurz geraten.

Mir fällt ein abschließendes Urteil schwer, die Schönheit der Sprache hat mich wirklich beeindruckt von Antje Rávic Strubel ist daher aus meiner Sicht noch viel zu erwarten. Für das Projekt über Wendeliteratur ist das Buch aber leider wenig erkenntnisreich dazu wird dem Thema Inzest zu viel Raum gegeben. Der Roman kann sich leider nicht so recht entscheiden ob er antikes symbolisches Kammerspiel oder Historienroman sein will. Mehr Mühe steckt in ersterem aber meiner Meinung nach ist dieses Thema nicht wirklich überzeugend gelöst was in Anbetracht des gesellschaftlichen Tabus wohl auch kaum möglich war.

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