Donnerstag, 5. Januar 2012

Neal Stephenson: Snow Crash

Nicht mehr alles, was der amerikanische Bürger irgendwann in der Zukunft erlebt, ist noch real. Eine zweite, virtuelle Welt wurde von Hundertschaften von Programmierern geschaffen, das Metaversum. Hier läuft jeder Besucher mit einem Avatar herum, den er sich selbst aussuchen kann und hier gibt es genauso wie im übrigen Computeruniversum Viren. Der Virus (oder die Droge) namens Snow Crash stellt eine besondere Gefahr dar, denn sie hat nicht nur Auswirkung auf die Gesundheit des Rechensystems.


Hiro Protagonist ist cool, sieht aus wie ein Asiate nur mit der Hautfarbe eines Afrikaners und trägt ein Katana und ein Wakizashi. Mit diesen Schwertern und seiner geballten Kraft trainierter Muskeln mutiert er zur lebenden Waffe, nicht aufzuhalten, zuverlässig wie eine Atomuhr und seinen Auftrag führt er mit tödlicher Sicherheit aus. Sein Auftrag lautet: Pizza ausliefern.
Neben diesem sehr aufregenden Job arbeitet Hiro als Hacker (Stephensons Bezeichnung für Programmierer) und ist zudem ein routinierter Besucher des Metaversums. Sein Avatar sieht genauso aus wie sein reales Ebenbild und da er nicht unwesentliche Teile dieser virtuellen Welt selbst mit geschrieben hat, kennt er sich bestens aus.
Im Black Sun, einer angesagten Szene-Kneipe der virtuellen haute volée, zu der selbstverständlich nur ausgewählte Avatare Zugang haben, macht Hiro einen kleinen Besuch. Er möchte seinen ehemaligen Hacker-Kollegen Da5id sprechen.
In der Bar trifft er unerwartet auf den Avatar einer weiteren Bekannten, Juanita. Sie hat für das Metaversum die Mimik der Avatare geschrieben. Anstatt ein entspanntes Schwätzchen abzuhalten, kommt Juanita sofort zum Punkt: Sie hat von einer seltsamen Droge namens Snow Crash gehört. Das Zeug funktioniert wie ein Virus und ist sehr gefährlich. Hiro solle sich unbedingt von ihr fernhalten. Sie selbst habe schon Nachforschungen angestellt, woher dieses Snow Crash kommen könnte. Angeblich hat ein Großindustrieller damit zu tun. Hiro erhält von ihr eine Speicherkarte, auf der alles bisher gesammeltes Material enthalten ist.

Endlich hat Da5id Zeit für seinen alten Kameraden. Sie plaudern eine Weile und plötzlich zieht Da5id eine Karte aus der Tasche. Sie enthält eine kostenlose Probe von Snow Crash. Unsicher nimmt Hiro Abstand, doch auf die Warnungen des Kollegen hört der andere nicht. Selbstbewusst knickt er die Karte durch und ein weiblicher Avatar erscheint. Das Mädchen flüstert Da5id etwas ins Ohr, dieser macht ein erstauntes Gesicht und dann rollt sie vor seinen Augen ein Pergament aus. Mit weit aufgerissenen Augen schaut Da5id auf die Papierfläche. Als Hiro neugierig um die Ecke lunzt, kann er nur weißes Rauschen erkennen und im nächsten Moment ist das Mädchen verschwunden. Ein wenig benommen wirkt der frisch gebackene Drogen-Konsument, aber ansonsten ginge es ihm gut.
Doch sein Avatar zeigt sehr bald schlimmere Symptome: Er fängt an, sich aufzulösen, ein undefinierbares Rauschen verwischt sein Äußeres und scheint außer Kontrolle. Die computergesteuerten Security-Avatare erkennen, dass mit ihm etwas nicht stimmt und schmeißen ihren eigenen Chef vor die Tür.
Obwohl Hiro erst später erfährt, dass sein Hackerkumpel in diesem Moment zusammen gebrochen ist und sein Körper alle Kontrollfunktionen verloren hat, beginnt nun eine actionreiche Ermittlung nach dem Urheber von Snow Crash. Zügig wird ihm und Juanita klar: Es handelt sich nicht einfach nur um einen banalen Virus, sondern eine Vorstufe des Virus.
“Moment mal, Juanita. Entscheide dich. Dieses Snow Crash - ist das ein Virus, eine Droge oder eine Religion?”
Juanita hebt die Achseln. “Wo ist da der Unterschied?”


Die Grundessenz der Geschichte beschränkt sich auf einen besonderen Virus namens Snow Crash. Er ist genau genommen ein Metavirus, also ein System, was nicht selbst seinen Wirt infiziert, sondern das ein anderes System dazu bringt, einen Virus zu generieren, mit dem man schließlich Wirte infizieren kann.
Dieser Metavirus scheint schon älter als die abendländische Kultur zu sein und kann interpretiert werden als ein Virus, aber auch als ein Kult, eine Religion. Er wirkt direkt im Gehirn, wo es gezielt am menschlichen Bewusstsein, also praktisch der Software der Gehirns, Manipulationen vornimmt.
Interessant für die Computer-Liebhaber sind die Beschreibungen des Metaversums. Das Buch erschien im Jahre 1992, als es virtuelle Realität, wie wir sie bereits heute gebrauchen, nur als Science Fiction gab. Stephenson hatte trotzdem ein sehr realistisches Bild davon, wie es wäre, wenn wir mit virtuellen Repräsentaten unserer selbst durch eine computergenerierte Welt laufen würden.
An dieser Beschreibung hat mich lediglich gestört, dass das Metaversum im Grunde ziemlich überflüssig für die Handlung des Buches ist. Es spielt nur anfangs eine Rolle, als Da5id sich mit dem Virus infiziert. Danach nutzt Hiro die virtuelle Welt nur noch, um seinen NPC-Bibliothekar über Informationen zum Snow Crash Virus auszufragen. Die virtuelle Welt ist im Vergleich zur Realität ungleich langweiliger und ereignisloser - sozusagen eine redundante Kopie der echten Welt. Wer nicht gerade ein begeisterter Anhänger von Second Life ist, wird sich die Frage stellen, wozu das Metaversum dann überhaupt da ist.
 
Die echte Welt, in der Hiro und Y.T. den Kampf gegen Snow Crash aufnehmen, spielt in einem anarchischen Staat irgendwann in der Zukunft. Das Postsystem ist zusammengebrochen, der Staat hat keine Macht mehr und um Versorgung der Bevölkerung kümmert sich die Mafia. Aus dem FBI ist eine dystopische Organisation geworden, in der das Schreckensbild eines gläsernen Mitarbeiters gelebt wird. Solche unheimliche und interessante Ansätze werden am Rande erzählt und haben prinzipiell mit der Story nichts zu tun. Gerade das tägliche Leben, die Gruppierung der Wohnviertel in Franchises, Machtstrukturen etc., all das wird nie richtig zusammenhängend beschrieben. Durch schnipselhafte Gastauftritte muss sich der Leser selbst ein Bild davon machen, wie er sich beispielsweise die Franchises vorzustellen hat. Das ist schade, denn das drängt die Frage auf, warum Stephenson sich dieses Setting überhaupt ausdenkt, wenn ihm so wenig daran liegt.
Sehr ausschweifend beschäftigt er sich stattdessen mit der Herkunft und Entwicklung des Snow Crash Virus aus der fernen Kultur der Sumerer bis ins heutige Leben. Für Geschichts-Kenner könnten diese Passage unterhaltsame Neuinterpretationen von vagen Überlieferungen bedeuten. Ich selbst hätte allerdings nicht einmal sagen können, ob die genannten Götter und Sagen erfunden oder real sind (die umfangreiche Danksagung lässt allerdings vermuten, dass Stephenson tatsächlich fleißig recherchiert hat). Die Bedeutung eines solchen Virus, seine mögliche Weiterentwicklung und seine Macht werden im Vergleich dazu kaum erläutert.
Insgesamt hat der Roman einige gute Ideen, die jedoch in einer belanglosen Knall-Bumm-Action-Geschichte ärgerlich kurz angebunden verwurstet werden. Das Buch hätte gut und gern nur halb so dick sein können und hätte die wirklich essenziellen Grundgedanken nicht verloren. Für 530 Seiten jedoch ist ärgerlich viel Platz für Popcorn-Kino reserviert.

Sprachlich wird das Buch der Genrebezeichnung “Cyberpunk” vollkommen gerecht. Sie ist keineswegs schön, sie ist nicht verspielt-bildhaft, sondern beschreibt eben die Dinge, die passieren, wobei für Erklärungen gern Prinzipien aus der Informatik als Modell zu Hilfe genommen werden. Letzteres erfreut besonders mich als einschlägig vorbelasteten Studenten - wo doch die Informatik eher selten als erklärendes Hilfsmittel in der Literatur heran gezogen wird. (Inwiefern nicht-computeraffine Leser abgehängt werden könnten, kann ich nicht beurteilen.) Vor allem die wörtliche Sprache gestaltet sich gern flapsig, reich an Kraftausdrücken. Zu Anfang des Buches hat diese Erzählweise noch einen gewissen Witz, sogar Selbstironie.
Der Auslieferator steht zu seinem Wort - die Pizza binnen dreißig Minuten, sonst können Sie sie umsonst haben, den Fahrer erschießen, sein Auto nehmen und eine Schadensersatzklage einreichen.
Dieser Drive verliert sich jedoch sehr schnell. Spätestens wenn sich Stephenson in den seitenlangen Recherchen über die Sumerer und frühzeitlichen Christen ergeht, irgendwelche Mythen auf Informatik umdeutet und der Erkenntnisgewinn über den Virus nur im Kriechtempo voran geht, habe ich mich persönlich gelangweilt gefühlt.
Die Geschichte lebt nicht von ihren Charakteren, sondern eindeutig von der Handlung. Überdurchschnittlich große Aufmerksamkeit erhalten dabei blutige Zweikämpfe oder sonstige Schnetzeleien. Wer das mag, wird sich freuen, wer es nicht mag... nun, dem kann keiner helfen.

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