Sonntag, 11. Dezember 2011

Sergej Lukianenko: Spektrum

Über vierhundert belebte Planeten des Universums sind über Portale miteinander verbunden, die Großen Tore. Durch sie kann man in Sekundenbruchteilen zwischen den Planeten reisen. Bewacht werden diese Tore von einer geheimnisvollen, schweigsamen Rasse, den Schließern. Wer die Tore passieren will, muss den Schließern eine neue und interessante Geschichte erzählen.
Martin ist Privatdetektiv, ein routinierter Portalreisender. Er erhält von einem wohlhabenden Industriellen einen einfachen Auftrag: Seine siebzehnjährige Tochter Irina ist vor drei Tagen verschwunden und hat nach Aussagen ihrer Freundinnen das Große Portal benutzt. Martin soll herausfinden, wohin das Mädchen gereist ist und es zur Heimkehr motivieren.

Die Aufgabe scheint zu einfach. Irgendetwas stimmt damit nicht. Martins finstere Vorahnung bewahrheitet sich, als er das Mädchen auf dem Planeten Bibliothek auffindet und wenige Minuten später tot in den Armen hält.


Kurz vor ihrem Tod kann Irina dem Detektiv noch den Namen eines weiteren Planeten übermitteln. Er reist kurzerhand dorthin, um herauszufinden, was sie ihm mitteilen wollte. Bei einer Ausgrabungsstätte vor der Stadt trifft er: Irina. Und sie ist quicklebendig. Sie ist auf der Suche nach unentdeckten Relikten einer vergangenen, mächtigen Rasse. Kurz darauf stirbt auch diese Irina bei einer Schießerei. Das Ganze entwickelt sich zu einem Katz-und-Maus-Spiel, denn das Mädchen existiert in siebenfacher Ausfertigung und erforscht je auf einem anderen Planeten die ungelösten Rätsel der Planetengeschichte. Irgendjemand scheint verhindern zu wollen, dass diese Rätsel aufgedeckt werden, jemand Mächtiges. Wie die geheimnisvolle Rasse der Schließer.


Das Setting liest sich anfangs interessant an und bietet im Grunde alles, was ein spannender, verblüffender und fantasiereicher Science Fiction braucht: Viele verschiedene Welten mit unterschiedlichen Bewohnern, rätselhafte Torschließer und ein kombinationsfester Geheimdetektiv, dessen einfach klingender Auftrag ein seltsames Geheimnis in sich birgt.
Ist die Handlung einmal angelaufen, hat man schnell das Gefühl, man müsse eine langweilige Endlosreihe vom Sterben der  immer und immer wieder selben naiv-dreisten Irina beiwohnen. Hätte sie sich vielleicht in nur vier Teile zersplittern können? Oder in drei? Nach dem zweiten Tod der Madame hat jeder Leser begriffen, worauf es hinausläuft aber Lukianenko zwingt den Leser, diesem Ritual noch viele weitere Male beizuwohnen. Zumal Todesarten der Irina-Klone zuweilen stark auf der Grenze zur Lächerlichkeit rangieren (siehe unten). Zur Mitte des Buches musste ich ehrlich mit mir ringen, um überhaupt weiter zu lesen.
Auf seiner Suche nach sämtlichen Irina-Doppelgängern bereist Martin allerhand Planeten, auf denen eigenständige Zivilisationen leben. Mehr oder weniger detailreich lernt man diese Zivlisationen kennen, wobei sie nicht so gut überzeugen, um als real existierende Lebewesen durchgehen zu können. Interessante Eigenschaften findet man bei den Aliens hin und wieder (eingeschlechtliche Wesen, die aus sich selbst heraus einen Nachfahren gebären und anschließend sterben oder auch technokratische Vernunftwesen, die jedes unwissenschaftliche Verhalten wie Religion abgelegt haben). Jedoch werden diese interessanten Eigenschaften kurzerhand übergangen, da Martin in Windeseile zum nächsten Planeten wandern muss. Für nähere Betrachtungen bleibt da keine Zeit. Schade.

Auf einem Planeten angekommen, findet Martin binnen kürzester Zeit die gesuchte Irina - oder sie sucht ihn gezielt auf - (Woher weiß sie, dass Martin genau in diesem Moment diesen Planeten betreten hat? Nur ein weiteres von vielen unglaubwürdigen Details) und begleitet sie eine Zeit lang bei ihren Untersuchungen. Die Erkenntnisse, zu denen beide innerhalb dieser kurzen Zeit gelangen, werden in seitenlangen Unterhaltungen besprochen. In diesen Unterhaltungen ist es meist Martin, dem wie aus heiterem Himmel plötzlich Erklärungen für ein Phänomen oder Antworten auf eine Frage einfallen, obwohl er sich mit der hiesigen Spezies überhaupt nicht beschäftigt hat (unglaubwürdiges Detail, siehe oben). In den nun folgenden Gesprächen gibt es meist eine sinnvolle Quintessenz, die Martin aus dem Besuch des jeweiligen Planeten für sich mitnehmen kann. Nur wird eben jene Essenz von ausholenden, redundanten Geschwafel voller an den Haaren herbei gezogenen Schlussfolgerungsketten der beiden Hauptcharaktere derart zerquatscht, dass ich mich manchmal zum Schluss nicht mehr daran erinnern konnte, was nun der Samen der Erkenntnis gewesen sein soll.
Das Finale des Buches - abgesehen von der lächerlich banalen Lösung des Schlussrätsels (siehe unten) - wirkt konstruiert, melodramatisch-kitschig und enthält eine Moral, die Verdacht auf Unvollständigkeit erweckt. Ein Schließer würde diese Geschichte so nicht gelten lassen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die wirklich interessanten Fragen, wie ‘Warum gibt es die Großen Tore und was bezwecken die Schließer mit ihnen? Warum muss man als Wegzoll eine Geschichte erzählen?’ nie beantwortet werden. Dazu gibt es nur Theorien, die allesamt nicht bestätigt oder widerlegt werden.

Insgesamt gibt es vieles, was ich dem Roman vorwerfe.
1. Lächerlichkeit
Beispiel (nacherzählt): Auf Planet Marge hat Martin soeben Irina N° 3 ausfindig gemacht und führt sie aus dem Tempel heraus. Ein Geddar betritt den Tempel, beleidigt den Priester und die beiden fechten miteinander, wobei der Priester verliert und stirbt. Martin (der bereits zweimal nicht richtig aufgepasst hat, worauf ihm jedes Mal das Mädel entwischte, um zielsicher in den Tod zu dackeln) passt schon wieder nicht richtig auf, Irina entwindet sich seinem Griff und greift zum Schwert des toten Priesters. Durch die kräftige, befreiende Bewegung, die siebzehnjährige Mädchen halt so an sich haben, wird Martin derart aus dem Gleichgewicht geschleudert, dass er auf dem blutigen Boden ausrutscht und hinfällt. Während er also ausgeknockt herum liegt, bleiben Irina N°. 3 und dem erbosten Geddar genug Zeit, um miteinander zu fechten, sie sticht ihm ihr Schwert in den Leib, rutscht auf dem blutigen Fußboden aus und stürzt (wohin auch sonst) direkt in die Klinge des Geddarn. Martin, der aus irgendeinem Grund schon wieder auf dem blutigen Fußboden ausgerutscht ist, kann nichts weiter, als Irinas Tod feststellen.... Habe ich schon erwähnt, dass der Fußboden blutig ist?

2. Trivialität
Die erschlagende Mehrheit aller Geheimnisse, Rätsel oder verborgenen Hintergründe werden auf enttäuschend simple Art aufgedeckt. Meist fällt die Lösung Martin auch einfach so ein, ohne dass dieser spontane Einfall durch irgendetwas begründet werden könnte (unglaubwürdiges Detail, fortan abgekürzt mit u.D.). Es ist einfach nicht denkbar, dass auf diese banalen Ideen vor ihnen noch keiner gekommen ist.
Beispiel: Die (mittlerweile wieder einmal verstorbene) Irina N°. 2 hat vor ihrem spektakulären Dahinscheiden einen Brief an ihren Herrn Papa verfasst. Darin lässt sie liebe Grüße an ihren Hund Homer ausrichten. ABER der Hund heißt gar nicht Homer! Er heißt Bart! *BAAAM BADAM BAM!*
Nun ist Köpfchen gefragt... wollte uns das Fräulein damit etwas Wichtiges mitteilen? Eventuell über den Aufenthaltsort ihrer nächsten Doppelgängerin? Versteckt sich dahinter der Name eines Planeten, den Martin aufsuchen sollte? Er gibt Bart und Homer als Suchworte in das Planetenlexikon ein - natürlich, kein Treffer. Mit Sicherheit hat sie ihre Nachricht geschickt chiffriert.
Also probiert er es mit.... Marge!
Bingo. Jackpott. Glückwunsch. Das war das Rätsel.

3. Flache Charaktere
Der Hauptcharakter Martin gibt sich gern sinnlichen Genüssen hin und als Leser begleitet man ihn eigentlich nur dabei, wie er eine Reihe von Entscheidungen trifft, wie er etwas erlebt, wie er seine gesammelten Erkenntnisse den Schließern als Geschichten auftischt und hin und wieder seine philosophischen Schlussfolgerungen. Er offenbart jedoch keinerlei greifbare Charaktereigenschaften, mit denen ich eine Emotion hätte verknüpfen können. Nie handelt er sympathisch, unsympathisch, tapfer, feige oder offenbart sonstige Anzeichen eines individuellen Kerns mit Ecken und Kanten. Stattdessen handelt er aalglatt, immer gerade angemessen oder er folgt einem inneren Drang, den näher zu erläutern Lukianenko wohl nicht notwendig erschien (u.D.).
Irina Poluschkina wird die ganze Zeit mit dem Nomen “Frau” umschrieben. Das selbstbewusste, bestimmte und in sich gefestigte Verhalten erinnert auch eher an eine Frau. Ob sie den Zusatz “klug” verdient, diesbezüglich halte ich mich zurück...

“Die entscheidende Besonderheit der Schealier ist die Verstandlosigkeit der erwachsenen Individuen. Frage: Was sollst du nun tun? Antwort: Ihnen den Verstand zurückgeben. Frage: Warum? Antwort: Darum.” 
Trotz allem ist sie nur ein siebzehnjähriges Mädchen (und im Übrigen minderjährig, weshalb ich dies Affäre zwischen Martin und ihr nicht weiter zu kommentieren brauche) und Siebzehnjährige kann man emotional als so ziemlich alles bezeichnen, nur nicht als reif und innerlich gefestigt (u.D.). Trotzdem bildet sie sich ein, mit ihren siebzehn Lenzen genug Sachverstand und Lebenserfahrung mitzubringen, um sieben der großen ungelösten Fragen des Universums zu knacken, an denen sich schon Generationen von Gelehrten seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißen (u.D.). In den Gesprächen schlägt sich ihr Genie auf wenig beeindruckende Art nieder. Die Art, wie dieses Mädchen an neue Erkenntnisse gelangt, ist nicht unglaubwürdig, sondern einfach nur traurig.
Beispiel: Die Spezies der Geddarn hält sich bekanntermaßen Haustiere, ähnlich wie Menschen sich Hunde halten. Diese Haustiere, Kchannan, verfügen über genug Auffassungsgabe, um die Befehle ihrer Herren auszuführen, über eigenen Verstand verfügen sie allerdings nicht. Außerdem sind bei den Geddarn die Frauen nahezu rechtelos. Sie haben im Gegensatz zu den Männern keine Intelligenz.
Irina behauptet nun: Die Kchannan, die als Haustiere gehalten werden, sind in Wirklichkeit die Weibchen der Geddarn. Eine Konstellation, auf die vor ihr noch keiner gekommen ist (u.D.).
Wie gelangte sie zu der These? Sie hat einen Geddar dabei beobachtet, wie er einen Kchannan begattete.
Das ist so briliant, dazu fällt mir nichts mehr ein.

Sprachlich gibt es keine Besonderheiten zu berichten, hin und wieder geraten einzelne Absätze etwas blumig, also schwelgend in Adjektiven. Während philosophischer Diskussionen zwischen Martin und Irina nimmt Lukianenko auch gern mal das metaphorische Fachwortlexikon für wissenschaftlich anmutende Erklärungen zur Hand, verquirlt die Grundgedanken jedoch (wie bereits erwähnt) in massenhaft Geschwätzigkeit, bis sie ihre Aussagekraft nahezu eingebüßt haben. Beruhigend immerhin, dass Lukianenko angesichts jeder Situation stets den Blick für das Wesentliche behält - wie beim Tode der Irina N°. 1:

Noch größerer Ekel flößte [Martin] indes der Gedanke ein, dass dieser prachtvolle Körper, der noch eine Viertelstunde zuvor unbestreitbar eindeutige Gefühle bei jedem Mann hervorgerufen hatte, schamlos nackt zur Schau gestellt werden sollte.

Fazit: Für einen 300-Seiten-Roman hätte der Stoff eine kompakte Story bieten können, in seiner 700-seitigen Form erinnert es jedoch an eine auf Ballongröße aufgeblasene Ideen-Erbse.

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