Samstag, 12. November 2011

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe


Jede Generation muss sich immer wieder strecken um an die Früchte ganz oben zu kommen und den erworbenen Vorteil dann an die nächste Generation weitergeben. Was ist aber wenn eine Generation ausfällt, wenn sich herausstellt das sie sich in die falsche Richtung gestreckt haben?







Judith Schalansky geboren 1980 in Greifswald hat Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign studiert und schreibt und gestaltet Bücher. Sie erhielt viele Preise für ihre Buchgestaltungen zum Beispiel für ein typografisches Kompendium namens "Fraktur mon amour" und für den "Atlas der abgelegenen Inseln" einer Sammlung von bizarren und ausgefallenen Geschichten und Berichten über unbewohnte Inseln, die durch gezeichnete Karten ergänzt werden. Auf diese Art vollzog sie offenbar Stück für Stück den Weg von der reinen Gestaltung zur Belletristik, ohne der Gestaltung völlig abzuschwören, denn auch das vorliegende Buch wurde von ihr designt und weist somit einige Besonderheiten auf.

Das Buch kommt ohne Schutzumschlag aus und ist in weiches, graubraunes Leinen gebunden, dass mit einer stilisierten Giraffe verziert ist. Das erweckt den Eindruck, ein altes Lexikon der Tiere in der Hand zu halten. Im Inneren stößt man auf dünne, filigrane Zeichnungen von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Einzellern, sowie einem grausam wertenden, dabei urkomischen Sitzplan der 9. Klasse des Charles Darwin Gymnasiums einer nichtbenannten Kleinstadt in Vorpommern.

Damit sind wir auch schon mitten im Bericht aus dem Innern von Inge Lohmark, der Verfasserin des Sitzplans. Der Roman liest in ihren Gedanken, bleibt dabei aber distanziert ohne die Ich-Form zu verwenden. Inge Lohmark lebt mit ihrem Mann, der Strauße züchtet und diesen wohl mehr verbunden ist, als seiner Frau, in einem kleinen Dorf in der Nähe der Schule. Ihre Tochter lebt kinderlos, etwas, das die Lohmark besonders zu stören scheint, in den USA und meldet sich von dort sehr selten. Sie selbst ist die Biologie- und Klassenlehrerin der „Letzten ihrer Art“, diese neunte Klasse wird die letzte der Gymnasialen Oberstufe sein, danach wird die Schule geschlossen. Wir erleben die Berichte von drei Tagen, die wiederum über einen Zeitpunkt von mehreren Monaten verteilt sind. Parallel zum Tagesablauf der Inge Lohmark wird dabei der Lehrplan der 9. Klasse in Biologie zum Teil sehr detailreich abgehandelt. Die Fachgebiete sind Teil der Weltsicht der Lohmark und werden in Beziehung zum Verhalten und dessen Bewertung ihrer sozialen Kontakte gesetzt. Dabei spielt speziell Darwin mit seiner Evolutionstheorie eine große Rolle, den sie schlussendlich am Beispiel der Giraffe sogar mit Hilfe des Lamarckismus umdeutet und ihn somit mit dem alten sozialistischen Bild der Weiterentwicklung des Einzelnen vereint.

Judith Schalansky präsentiert mit Inge Lohmark einen von Grund auf zynischen Menschen, deren knallharte Bewertungen der ostdeutschen Tristesse mit seinen Bewohnern dabei durchaus komisch sein können.

„Die Pflanzen aber blieben. Sie waren vor uns da, und sie würden uns überleben. Noch war dieser Ort nur eine schrumpfende Stadt, die Produktion längst eingestellt, aber die wahren Produzenten waren schon am Werk. Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Verwilderung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften.“

Aber immer wenn sich der Schmerz über Umgebung, Familie und Beruf in ihr bemerkbar zu machen scheint, dann ringt sie ihn mit biologisch wissenschaftlicher Lakonie nieder. Das ist anfangs komisch, man fühlt aber bald die Leere darunter, denn in ihrem Leben ist eigentlich nichts in Ordnung. Trotzdem hat sie für alles ihre biologistische Erklärung:
Die Ehe lieblos:

„Man blieb ohnehin nur deshalb zusammen, weil die Aufzucht der Jungen unendlich aufwendig war.“

Die Tochter weit weg in den USA ohne Anstalten zurück zu kommen:

                „Im Tierreich kam man sonntags nicht zum Kaffeetrinken vorbei.“

Ihre fehlenden Überzeugung und Moral:

„Rinder waren eine Erfindung des Menschen. Das waren Milchmaschinen, weidendes Fleisch mit sieben Mägen. Wir hatten sie gezüchtet. Jetzt mussten wir sie auch essen.“
„Früher das Ozonloch.“ […] Heute der Klimawandel. […] Nur darauf aus ein schlechtes Gewissen zu züchten.
„Moral hatte in der Biologie genau so wenig zu suchen wie in der Politik“  

Inge Lohmark hält jede Entwicklung und jede Empathie für sinnlosen Aufwand.

„Entwicklung war nichts als ein Ausdruck von Unvollkommenheit. […] Allein das der Mensch zur Schule gehen musste, sprach für die Unzulänglichkeit seiner Konstruktion. Fast alle anderen Tiere waren mit der Geburt fertig. Fertig für das Leben. Ihm gewachsen.“

 Ihr Motto ist „Nur die Starken überleben“, Hilfe verfälscht dabei das bereits vorbestimmte Ergebnis und verbreitet sinnlose Hoffnung in dieser Region, die keine Zukunftsperspektive erzeugen kann. Nur manchmal und dann auf bizarr beängstigende Weise, bricht da etwas wie die Suche nach Zuneigung durch. Dann überkommt einen tiefstes Mitleid, das aber auch schnell in tiefste Abneigung fällt, denn letztlich ist dieses völlige Fehlen von Empathie abstoßend. 

Rundherum werden die ganzen Probleme der ostdeutschen Provinz wie Landflucht, Verwahrlosung, Flucht in das Private und das Versagen der Bildung berufen thematisiert. Der Stil ist manchmal trocken wie der Biologieunterricht, kann aber auch schnell in eine bildhafte, schöne Sprache wechseln. Die Menschen in Inge Lohmarks Umgebung schleppen alle ihren persönlichen Wendeballast mit sich herum, den man als Ostdeutscher häufig und meist mit Erschrecken wiedererkennt. Speziell in der Lohmark dominiert eine tiefe Resignation. Sich immer wieder recken? Noch einmal anpassen? Sie war perfekt angepasst an ihren Lebensraum und sie will und kann, wie viele in ihrer Umgebung auch nicht, noch einmal neu damit anfangen. Die Motivationsversuche der eingewanderten „Wessies“ klingen dabei nur hohl und die der Rückwärtskucker genauso. 

Wo ist denn die Lösung außer weggehen? Straußenzucht wie das ihr Mann tut? Einigeln wie ihr Nachbar? Der Vergangenheit nachtrauern wie ihr Kollege? Zurück bleiben schlussendlich nur die Alten. Wer sich nicht anpasst, stirbt eben aus.
         
Ein grausam schönes Buch, poetisch und komisch und manchmal sehr verstörend.  

2 Kommentare:

  1. Klingt nach einem interessanten und faszinierendem Charakter. Schöne Textzitate, die Du da ausgesucht hast. Das werde ich mir auf jeden Fall mal im Hinterkopf behalten.

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  2. Nun, da ich das Buch selbst auch gelesen habe, kann ich Dir mit Eifer zustimmen: Ein wirklich toller Roman!
    Ich konnte tatsächlich Teile wieder erkennen, die zur DDR-Philosophie dazu gehören und die ich selbst ansatzweise auch noch erfahren habe: Das Kleinhalten von Gefühlen, da Gefühlsduselei und Mitleidbekundung als Schwäche gilt, die den Menschen daran hindert, seine volle Kraft auszuschöpfen.

    Außerdem ein Buch mit dem tollsten Schlusssatz meines bisherigen Bücherlesens: "Inge Lohmark stand am Zaun und schaute."
    Dieses traurige Bild von Einsamkeit, Verlorenheit und diese Art des Kindlichen, was in ihr steckt und was immer unterdrückt wurde, nie erwachsen werden durfte. Jeder Betrachter dieses Schluss-Bildes fühlt sich traurig, nur Lohmark selbst fühlt nichts. Sie steht nur da und schaut.
    Wunderbar.

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