Sonntag, 30. Oktober 2011

Peter Stamm: Sieben Jahre

Diese ungewöhnliche Erzählung zeigt eindrucksvoll, dass Peter Stamms Romane nicht in erster Linie durch ihre Handlungen lesenwert werden sondern durch seine Charaktere.
In diesem Fall handelt es sich um zwei Lebensentwürfe, die nicht nur aufeinander prallen sondern sich umschlingen und miteinander verbinden.


Der Hauptdarsteller Alex studiert in München Architektur. Bei einem Kneipenbesuch lernt er (unfreiwillig) eine Polin namens Iwona kennen. Sie ist mehrere Jahre älter als er und strahlt genau das Gegenteil von blütenreiner Schönheit aus. Hinzu kommt, dass sie Alex und seinen Kommilitonen während des ganzen Abends geduldig hinterher läuft, ohne mit ihnen zu sprechen. Obwohl sie sich nicht aufdrängt, fühlt sich ihre Gegenwart einfach lästig an. Alex will sie loswerden, empfindet aber gleichzeitig auf merkwürdige Art eine sexuelle Anziehung zu Iwona. Er trifft sich hin und wieder mit ihr, wobei er sie im Grunde kaum kennenlernt. Meist spricht er oder der Fernseher läuft. Sie hört ihm geduldig zu, bleibt passiv, zahm, interessiert sich für nichts und beschwert sich nicht über Alex´ rüde Behandlung. Lediglich, dass sie katholisch ist, erfährt er von ihr. Sie ist der Meinung, dass Gott alles lenkt und er sich bei allem etwas gedacht hat.

Später verreist Alex gemeinsam mit seiner Kommilitonin Sonja und die beiden werden ein Paar. Sonja verkörpert das perfekte Gegenteil zu Iwona: Sie ist hübsch, klug, hat konkrete Pläne, will in ihrem Leben Großes erreichen und zeigt einen starken Willen. Alex denkt, dass er die perfekte Frau gefunden hat. Trotzdem sucht ihn sieben Jahre später die Obsession zu Iwona wieder heim. Niemand kann sich erklären, was er an dieser hässlichen (und zudem viel älteren) Polin findet. Er ebenfalls nicht.


Das Leben, das Sonja und Alex für sich entwerfen, soll nichts Geringeres als perfekt sein. Sie wollen ihre eigene Firma führen, viel Geld verdienen, eine Familie gründen, oft in den Urlaub fahren und ein Einfamilienhaus beziehen. Ein Wunsch nach dem anderen erfüllt sich, doch das Ergebnis ist nicht das perfekte Leben, was sich das Paar erhofft hatte. Ihre Ehe zerbricht am Schluss des Romans.
Iwona, die von Alex kurzerhand im Stich gelassen wird, lebt relativ arm, hält sich mit Nebenjobs über Wasser und besitzt kaum Bildung. Sie hat ihr Herz an den Gedanken gehängt, dass Alex der Mann sei, den Gott für sie erwählt hat. Ihre Familie verstößt sie sogar als Iwona von ihm schwanger wird. Obwohl sie vom Leben so gut wie nichts erhält, ist sie nicht unglücklich. Sie hat vom Leben schließlich nie etwas erwartet. Der feste Glauben daran, dass Alex eines Tages zu ihr zurück kehrt wie Gott es vorgesehen hat, genügt ihr vollständig.



Trotzdem dass der Leser nie ganz nachvollziehen kann, wie Alex aus seiner Abneigung gegen Iwona sexuelle Lust entwickeln kann, wirkt die Entwicklung der Geschichte vollkommen nachvollziehbar. Um ein perfektes Leben zu führen, muss Alex schließlich zum perfekten Menschen werden. Die verzweifelte Sehnsucht, einfach so sein zu dürfen wie er ist, kann er sich nur bei Iwona erfüllen.

Peter Stamm schafft ein tiefsinniges Ensemble, das sich rund um das allgegenwärtige Streben nach dem Glück dreht. Charaktere wie hier findet man mit Sicherheit in keinem zweiten Buch.



PS.: Der Roman heißt „Sieben Jahre“ in Anspielung auf die Bibelgeschichte von Jakob, der auch sieben Jahre auf seine Frau warten musste. Am Ende bekam er allerdings die falsche.

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